Zweite Szene

[255] BENJAMIN tritt auf und hält sich den Bauch. Au weh, au weh! Das ist ein Bauch! Läßt lieber die Eingeweide fahren, als den Stein! Anderthalb Tage schlepp ich den Diamant nun schon mit mir herum! Lebkuchen und Häringe hab ich durcheinander gegessen und einen Trunk frischer Milch darauf gesetzt. Nichts schlägt an. Der Stein bleibt, wo er ist, aber Bauchgrimmen bekommt man, als ob man gebären sollte, und eine ganze Armee auf einmal. Hab ich den Tod verschluckt? Soll das Kleinod mich unter die Erde bringen? Im letzten Wirtshaus besah ich mich im Spiegel. Ich hätte schwören mögen, ich sähe einen Fremden, so hatte der Schmerz mich mitgenommen! Au!

BLOCK. Gottes Segen! Hört Ihr nicht?

DOKTOR PFEFFER. Jammertöne! Aber vielleicht von einer kreißenden Eidechse, bei der noch kein Accoucheur einen Heller verdient hat.

BLOCK. Nein, nein, dort steht ein Mensch!

DOKTOR PFEFFER. Wirklich? Nun ja!

BLOCK ruft. Nur näher, Freund!

DOKTOR PFEFFER. Warum? Das ist einer von denen, die erst recht krank werden, wenn sie den Arzt kommen sehen, weil die Rechnung ihnen einfällt.

BLOCK. Ihr könnt nicht wissen, was ihm fehlt. Die Not verändert alles.

DOKTOR PFEFFER. Zahnweh! Eine Kolik! Übel, die jede alte Vettel vertreiben, die man durch Fliedertee, durch einen heißen Stein, in die Flucht schlagen kann! Eine ordentliche Krankheit gibt sich auch wohl mit einem Schacherjuden ab!

BLOCK. Also auch hiebei kommts auf den Rang an?

DOKTOR PFEFFER. Schäm dich! Drittehalb Jahre laß ichs mir nun schon bei dir im Hause gefallen, und noch nicht so viel hast du gelernt? Gesundheit! Nun ja, die kann man umsonst haben! Man grabe, man esse schwarzes Brot, man saufe Wasser und verderbe sich den Magen nicht öfterer, als man auf eine Hochzeit kommt, das heißt drei Mal im ganzen, das erste Mal, wenn man selbst Hochzeit macht, das zweite und dritte Mal, wenn man dem Sohn und dem Enkel die Hochzeit ausrichtet. Das[256] gibt Kadaver, wie von Leder, Fraß für Jahrhunderte, den selbst das Grab nicht ohne Beihülfe von ungelöschtem Kalk verdauen kann. Aber eine Krankheit, eine respektable, die einem was zu denken gibt, einem den Patienten unter den Händen wegstiehlt und drei Fakultäten auf einmal betrügt, die Theologie um eine Seele, die Jurisprudenz ums Testament und die Medizin um ein Leben, ja solch eine Krankheit macht sich mit dem Pöbel nicht gemein, die sieht sich nach vollen Bechern um, nach indianischen Vogelnestern und arabischen Spezereien, die verlangt Tausendtaler-Sünden, die ist zu rar, zu teuer fürs Geschmeiß!

BENJAMIN. Au weh!

DOKTOR PFEFFER. Schweig, Jude, oder komm heran! Jeder Kranke ist eine Beleidigung für den Arzt, wie jeder Sünder für den Priester.

BENJAMIN nähert sich, zu Block. Wer ist der Mann?

BLOCK. Ein Doktor, wer sollt es sonst sein!

DOKTOR PFEFFER. Was fehlt dir? Kannst du einem die Hand nicht reichen, daß man deinen Puls fühlt? Zunge heraus! Du hast den edlen Muskel nicht zum Wimmern erhalten, sondern um ihn auszustrecken! Ein wahrer Rekrut! Kennt kein einziges Manöver! Zunge eingezogen! Fühlst dus denn nicht, daß sich ein geiles Fliegenpaar darauf niederläßt, um Unzucht zu treiben? Aufgeschaut! Antwort! Wo haperts?

BENJAMIN. Herr, ich habe einen Stein verschluckt, und muß sterben, wenn mir nicht bald geholfen wird!

DOKTOR PFEFFER. Einen Stein? Was für einen Stein?

BENJAMIN. Was für einen Stein? Was meint Ihr damit? Einen Stein von der gemeinsten Art, von der allergemeinsten! Ihr denkt wohl gar an Edelsteine? Ein Kiesel, ich schwör es Euch zu, ein nichtsnutziger Kiesel! Doch nein, ich will ehrlich sein, beschwören kann ichs nicht, daß es ein Kiesel war. Möglicherweise ein Quarz.

DOKTOR PFEFFER. Wie kam man dazu, den Kiesel zu verschlingen?

BENJAMIN. Wie? Wie? Au weh! Das – das will ich Euch sagen, ausführlich, genau, sobald Eure Kunst mich wieder von dem Stein befreit hat.

DOKTOR PFEFFER. Ein sonderbarer Casus![257]

BENJAMIN. Sonderbar? Wieso? Daß ich nicht wüßte! Man frühstückt, man ist hungrig, sehr hungrig, man läßt ein Stück Brot fallen, man bückt sich darnach, hebts auf, verschlingts unbesehens, denn man liest zugleich die Todesanzeige eines geliebten Freundes in der Zeitung, und siehe da, der Stein, der einem beim Bücken zwischen die Finger geriet, wird mitverschluckt, vielleicht, wer kanns so genau wissen, ein Paar Stecknadeln obendrein!

DOKTOR PFEFFER zu Block. Der Jude wird mir verdächtig! Zu Benjamin. Woher das blaue Auge? Mit auf die Welt gebracht, nicht wahr?

BENJAMIN. Gibts hier herum nicht Bäume genug, sich daran zu stoßen, wenn man hastig rennt?

DOKTOR PFEFFER. O ja! aber warum rennt man so hastig, daß man, wenn man vielleicht ein Dieb ist, sich selbst für den Steckbrief zeichnet?

BENJAMIN. Warum? Für sich. Ich will mich lieber vor der Tür eines Gefängnisses zum Ausruhen niedersetzen und zur Unterhaltung einen Strick drehen, als dem noch drei Fragen beantworten! Zu Doktor Pfeffer. Ihr glaubt wohl, daß jemand hinter mir her war? Gerade umgekehrt, ich war hinter einem her, und bei Gott, wenn ich an den Bösewicht denke, so fühl ich meinen Schmerz nicht mehr! Schelm, Schelm, du sollst mir nicht entgehen! Er stellt sich, als ob er jemand verfolgen wolle.

DOKTOR PFEFFER. So entkommt man einem ehemaligen Senior nicht! Zu Block. Haltet den Burschen einmal fest!

BLOCK legt die Hand auf Benjamin.

BENJAMIN reißt sich los und eilt fort, bleibt aber plötzlich stehen, denn.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 1, München 1963, S. 255-258.
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