Sechste Szene


[296] Das Haupt-Gemach wird geöffnet. Man sieht die Prinzessin auf ihrer Ottomane sitzen. Kinder, als Genien gekleidet, stehen mit reichen Geschenken um sie her. Die Musik dauert eine Weile fort.


DIE HOFMEISTERIN heraustretend. Meine Damen und Herren, Ihre Hoheit wollen empfangen.

ERSTE DAME im Hineingehen. In der Tat?

DIE HOFMEISTERIN. Ich habe ihr angesagt, daß der Hof versammelt ist, und ohne eine Antwort oder einen Wink abzuwarten, öffnen lassen.


Damen und Herren gruppieren sich um die Prinzessin, die Musik verstummt.


ERSTE DAME. Ew. Hoheit geruhen, unser aller herzlichste Glückwünsche zu Dero Geburtstag entgegenzunehmen!

ERSTER KAVALIER. Wir wagen, Ew. Hoheit auch die unsrigen in tiefster Ergebenheit zu Füßen zu legen. Wir würden es versuchen, unsern Empfindungen und Gedanken Worte zu geben, aber erst eben hat hier der heilige Mund der Musik an die Seele geredet; da muß die menschliche Lippe verstummen.


Die Prinzessin sieht sie starr an. Ängstliche Pause.


ERSTE DAME auf eine Stickerei zeigend, die auf einem Tischchen neben der Ottomane liegt. Wie reizend erdacht! Wie zart ausgeführt! Zu der zweiten Dame. Nicht ohne Absicht hat man die Stickerei hieher gelegt. Es war ihre letzte Arbeit. Laut. Ich glaubt, Ihre Hoheit haben noch gestern abend daran gestickt![296]

DRITTE DAME. Das haben Sie.


Die Prinzessin sieht bald auf die Damen, bald auf die Stickerei.


ERSTE DAME. Vielleicht zum Geburtstagsgeschenk für die allergnädigste Frau Mutter bestimmt. Ihro Majestät befinden sich leider heut morgen noch schlimmer, als gestern abend.

ZWEITE DAME. Sonst würden Sie gewiß die erste hier gewesen sein. Jetzt müssen Sie es abwarten, ob die Prinzessin Tochter sich zu Ihrem Krankenbett begeben werden, um Ihren Segen, Ihre Glückwünsche zu empfangen!


Die Prinzessin erhebt sich, dann schüttelt sie ungläubig den Kopf und sinkt wieder zurück.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 1, München 1963, S. 296-297.
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