Das Korn auf dem Dache

[190] Der Frühling ist gekommen,

Doch war der Winter scharf

Und hat mit weggenommen

Den nöthigsten Bedarf;

Die Pflüge bleiben stehen,

Es fehlt ja an der Saat,

Und muß auch was geschehen,

So weiß doch Keiner Rath.


Da hinkt ein alter Jude

In weißem Bart durch's Dorf,

Der kroch aus seiner Bude

Um etwas Sprock und Torf.

Er weilt bei jedem Schober

Und späht und bückt sich oft,

Und voll ist ihm der Kober,

Bevor er's noch gehofft.


Die Arbeit ward ihm sauer,

Nun will er denn nach Haus,

Da tritt ein müß'ger Bauer

Aus seiner Thür heraus.

Der ruft: Du hast dir Feu'rung

Gesammelt aus dem Mist,

So sag' auch, ob der Theurung

Nicht noch zu wehren ist.[190]


Der Alte hebt die Blicke,

Doch bis zum Himmel nicht,

Dann tickt er mit der Krücke

Auf's Hüttendach, und spricht:

»War das nicht eine Aehre,

Was ich im Stroh dort sah?

Wenn's nicht die einz'ge wäre,

So ist die Hülfe nah'!«


Der Bauer geht zur Leiter

Und deckt die Hütte ab,

Er drischt sein Stroh noch weiter,

Im lust'gen Klipp und Klapp,

Und als die Körner springen,

Da folgt ihm Mann für Mann,

Und das wird so viel bringen,

Daß Jeder säen kann.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 190-191.
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