Der Maler

[175] Ein Maler trat heran zu mir:

»Ich male dir ihr Bild!«

Ich führt' ihn alsobald zu ihr,

Sie litt es freundlich-mild.


Er malte unter Spiel und Scherz

Das süße Angesicht,

Sie fühlte seltsamlichen Schmerz,

Doch sagte sie es nicht.


Er malte ihrer Wangen Roth,

Des Auges Glanz zugleich,

Da ward ihr Auge blind und todt

Und ihre Wange bleich.


Und als sie ganz vollendet stand,

Die liebliche Gestalt,

Da griff ich nach des Mädchens Hand,

Doch die war feucht und kalt.[175]


Der Maler sah mir schweigend zu,

Dann rief er spöttisch drein:

»Ich wünsch' der Jungfrau gute Ruh,

Sie wird gestorben sein.«

Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 175-176.
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