Die Polen sollen leben

[170] (Neujahrsnacht 1835.)


Zu Hamburg in dem Saale,

Voll Lichterglanz und Pracht,

Sitzt mancher Gast beim Mahle

In heil'ger Neujahrsnacht;

Die Fremden sind's, sie wären gern

Im Vaterland, doch das ist fern,

Nun wird denn sein gedacht.[170]


Erst haben sich die Gäste

Kalt in's Gesicht geschaut,

Doch werden sie bei'm Feste

Bald froh und wohlvertraut.

Nur Einer, welchen Niemand kennt,

Blickt stumm in's Licht, wie's niederbrennt,

Jung, aber schon ergraut.


Ihm dünken sie Gespenster

In ihrer Lust zu sein;

Er kehrt sich ab; in's Fenster

Wirft hell der Mond den Schein.

Er spricht: du überschaust die Welt,

So sag', ob Polen steht, ob fällt! –

Die Wolke hüllt ihn ein.


Sein Herz will zornig wallen,

Da schwört er still sich zu:

Magst steh'n, mein Volk, magst fallen,

Ich steh' und fall', wie du!

Gewiß der Erste, wär' ich dort,

Der Letzte hier am fremden Ort,

Mein Dolch bringt mich zur Ruh.


Der Glockenthurm thut eben

Die zwölfte Stunde kund,

Die Polen sollen leben!

Ruft er mit lautem Mund.

Ein Jeder greift, wie er, zum Glas,

Sie All' erglüh'n, doch er sinkt blaß

Zurück, ist todt zur Stund'.


Sie gießen, statt zu trinken,

Den Wein jetzt in den Sand;[171]

Sie sah'n das Schicksal winken

Und haben's wohl erkannt,

Daß Polen bald dem Todten gleicht,

Doch Keiner ahnt, wie bald vielleicht

Die Welt dem Polenland.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 170-172.
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