1.

[232] Schweigend sinkt die Nacht hernieder,

Und in tiefster Dunkelheit

Lös't das Mädchen ihre Glieder

Aus dem engen Sonntagskleid.

Aber ihre Hände irren

Bei den Locken dann und wann,

Und um diese zu entwirren,

Zündet sie ihr Lämpchen an.


Schüchtern nun bei seinem Strale

Schaut sie in des Spiegels Rund,

Und ihr thut zum ersten Male

Ihrer Schönheit Macht sich kund.[232]

Tief erröthend, dennoch zaudernd,

Blickt sie fort und fort hinein;

Dann, wie vor sich selbst erschaudernd,

Löscht sie schnell der Lampe Schein.


Leise in sich selbst versinkend

Und aus eig'nen Zaubers Glanz

Inniges Genügen trinkend,

Ist sie still und selig ganz.

Doch sie will die Lust bezwingen,

Weil sie aus ihr selber quillt,

Da verklärt dies holde Ringen

Mailich süß ihr frommes Bild.


Und sie sieht's mit halbem Bangen,

Daß, je mehr sie sich verdammt,

Ihr's von Stirn und Mund und Wangen

Immer sternenhafter flammt.

Gottes eig'ner Finger leuchtet

Golden durch ihr Angesicht,

Und so wie ihr Blick sich feuchtet,

Löscht ihr Hauch zugleich das Licht.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 232-233.
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