1. Schwefelregen

[43] Nach den Gewittern im Frühjahr, wenn sie mit starken Regengüssen verbunden waren, sieht man oft am Rande der Lachen, die vom stehenden Regenwasser entstanden sind, ein gelbes Pulver, das wie kleingeriebener Schwefel aussieht. Nun meinen ohnehin noch viele Leute, daß die Gewitter von schweflichten Dünsten entstehen, die sich in den Wolken erzeugen, und bilden sich alsdann ein, es sei mit dem Regen solcher Schwefel vom Gewitter herabgefallen, und denken daran, daß ja auch schon einmal Feuer und Schwefel vom Himmel regnete auf Sodom und Gomorrha. Allein fürs erste wohnen wir gottlob nicht in Sodom und Gomorrha. Für das andere kann manchmal etwas so oder so aussehen, und es ist doch etwas anders, wie man schon oft mit Schaden erfahren hat. Und so ist auch das gelbe Pulver auf den Regenpfützen kein Schwefel: auch wenn es sich am Feuer entzündet, nicht, sondern Blütenstaub von den Bäumen. In den Tulpen stehen inwendig im Ring herum sechs kleine Säulen, auf deren Spitzen ein schwarzer Staub sitzt. Wer daran riecht, bekommt daher eine schwarze Nase. Auf den Lilien ist er schön gelb, und wer an eine weiße Lilie riecht, bekommt davon eine gelbe Nase. Das ist Blütenstaub. Er findet sich in allen Blumen und in allen Blüten, denn er ist unentbehrlich und notwendig, wenn aus der Blüte Frucht und Samen entstehen soll. Wenn es nun im Frühjahr, wo die Bäume blühen, starke Regengüsse gibt, so schwemmt der Regen diesen Staub von den Blüten ab, und dies ist auch eine Hauptursache, warum kein gutes Obstjahr[43] zu erwarten ist, wenn es viel in die Blüten geregnet hat. Wo nun viel solcher blühenden Bäume beisammenstehen, da schwemmt auch der Regen viel solchen Blütenstaub herab. Dieser sammelt sich alsdann wieder auf der Erde, und bleibe liegen, wenn das Wasser verdünstet, und das ist der vermeintliche Schwefelregen. Im Sommer und Spätjahr, wo doch die Gewitter meistens heftiger sind, wird niemand mehr etwas von Schwefelregen sehen, weil dann das Blühen ein Ende hat. Da regnen Äpfel, Nüsse, Eicheln etc. von den schweren listen der Bäume herab, aber kein eingebildeter Schwefel mehr.

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 43-44.
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