12.

[110] Der Abend kommt gezogen,

Der Nebel bedeckt die See;

Geheimnisvoll rauschen die Wogen,

Da steigt es weiß in die Höh'.


Die Meerfrau steigt aus den Wellen,

Und setzt sich zu mir an den Strand;

Die weißen Brüste quellen

Hervor aus dem Schleiergewand.


Sie drückt mich, und sie preßt mich,

Und tut mir fast ein Weh; –

»Du drückst ja viel zu fest mich,

Du schöne Wasserfee!«


»Ich preß dich, in meinen Armen,

Und drücke dich mit Gewalt;[110]

Ich will bei dir erwarmen,

Der Abend ist gar zu kalt.«


Der Mond schaut immer blasser

Aus dämmriger Wolkenhöh';

»Dein Auge wird trüber und nasser,

Du schöne Wasserfee!«


»Es wird nicht trüber und nasser,

Mein Aug' ist naß und trüb,

Weil, als ich stieg aus dem Wasser,

Ein Tropfen im Auge blieb.«


Die Möwen schrillen kläglich,

Es grollt und brandet die See; –

»Dein Herz pocht wild beweglich,

Du schöne Wasserfee!«


»Mein Herz pocht wild beweglich,

Es pocht beweglich wild,

Weil ich dich liebe unsäglich,

Du liebes Menschenbild!«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 110-111.
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