Kapitel XXVIII

[254] Obgleich ich, lieber Leser, jetzt schon Gelegenheit hätte, bei Erwähnung der Brera und Ambrosiana dir meine Kunsturteile aufzutischen, so will ich doch diesen Kelch an dir vorübergehen lassen und mich mit der Bemerkung begnügen, daß ich das spitze Kinn, das den Bildern der lombardischen Schule einen Anstrich von Sentimentalität gibt, auch auf den Straßen von[254] Mailand bei mancher schönen Lombardin gesehen habe. Es war mir immer außerordentlich belehrend, wenn ich mit den Werken einer Schule auch die Originale vergleichen konnte, die ihr als Modelle gedient haben; der Charakter der Schule kam mir dann klarer zur Anschauung. So ist mir auf dem Jahrmarkt zu Rotterdam der Jan Steen in seiner göttlichsten Heiterkeit plötzlich verständlich geworden; so habe ich späterhin am Long-Arno die Formenwahrheit und den tüchtigen Geist der Florentiner und auf dem San Marco die Farbenwahrheit und die träumerische Oberflächlichkeit der Venezianer begreifen lernen. Geh nach Rom, liebe Seele, und vielleicht schwingst du dich dort hinauf zur Anschauung der Idealität und zum Verständnis des Raffael.

Indessen eine Merkwürdigkeit Mailands, die in jeder Hinsicht die größte ist, kann ich nicht unerwähnt lassen – das ist der Dom.

In der Ferne scheint es, als sei er aus weißem Postpapier geschnitzelt, und in der Nähe erschrickt man, daß dieses Schnitzwerk aus unwiderlegbarem Marmor besteht. Die unzähligen Heiligenbilder, die das ganze Gebäude bedecken, die überall unter den gotischen Krondächlein hervorgucken und oben auf allen Spitzen gepflanzt stehen, dieses steinerne Volk verwirrt einem fast die Sinne. Betrachtet man das ganze Werk etwas länger, so findet man es doch recht hübsch, kolossal niedlich, ein Spielzeug für Riesenkinder. Im mitternächtlichen Mondschein gewährt es noch den besten Anblick, dann kommen all die weißen Steinmenschen aus ihrer wimmelnden Höhe herabgestiegen und gehen mit einem über die Piazza und flüstern einem alte Geschichten ins Ohr, putzig heilige, ganz geheime Geschichten von Galeazzo Visconti, der den Dombau begonnen, und von Napoleon Buonaparte, der ihn späterhin fortgesetzt.

»Siehst du« – sagte mir ein gar seltsamer Heiliger, der in der neuesten Zeit aus dem neuesten Marmor verfertigt war –, »siehst du, meine älteren Kameraden können nicht begreifen, warum der Kaiser Napoleon den Dombau so eifrig betrieben[255] hat. Aber ich weiß es sehr gut, er hat eingesehen, daß dieses große Steinhaus auf jeden Fall ein sehr nützliches Gebäude sein würde und auch dann noch brauchbar, wenn einst das Christenturn vorüber ist.«

Wenn einst das Christentum vorüber ist – Ich war schier erschrocken, als ich hörte, daß es Heilige in Italien gibt, die eine solche Sprache führen und dazu auf einem Platze, wo östreichische Schildwachen, mit Bärenmützen und Tornistern, auf und ab gehen. Indessen, der steinerne Kauz hat gewissermaßen recht, das Innere des Domes ist hübsch kühl im Sommer, und heiter und angenehm, und würde auch bei veränderter Bestimmung seinen Wert behalten.

Die Vollendung des Domes war einer von Napoleons Lieblingsgedanken, und er war nicht weit vom Ziele entfernt, als seine Herrschaft gebrochen wurde. Die Östreicher vollenden jetzt das Werk. Auch an dem berühmten Triumphbogen, der die Simplonstraße beschließen sollte, wird weitergebaut. Freilich, Napoleons Standbild wird nicht, wie früher bestimmt war, auf die Spitze jenes Bogens gestellt werden. Immerhin, der große Kaiser hat ein Standbild hinterlassen, das viel besser ist und dauerhafter als Marmor und das kein Östreicher unseren Blicken entziehen kann. Wenn wir anderen längst von der Sense der Zeit niedergemäht und wie Spreu des Feldes verweht sein werden, wird jenes Standbild noch unversehrt dastehen; neue Geschlechter werden aus der Erde hervorwachsen, werden schwindelnd an jenes Bild hinaufsehen und sich wieder in die Erde legen; – und die Zeit, unfähig, solch Bild zu zerstören, wird es in sagenhafte Nebel zu hüllen suchen, und seine ungeheure Geschichte wird endlich ein Mythos.

Vielleicht, nach Jahrtausenden, wird ein spitzfindiger Schulmeister, in einer grundgelehrten Dissertation, unumstößlich beweisen, daß der Napoleon Bonaparte ganz identisch sei mit jenem andern Titane, der den Göttern das Licht raubte und für dieses Vergehen auf einem einsamen Felsen, mitten im Meere, angeschmiedet wurde, preisgegeben einem Geier, der täglich sein Herz zerfleischte.[256]

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 21972, S. 254-257.
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