22.

[118] Es geht ein Mann mit einer goldnen Sense,

Des Blick ist starr und fühllos wie Basalt,

Der mäht dahin mit seiner goldnen Sense

Der schönsten Blumen liebliche Gestalt.

Sein Weib am Wege füttert goldne Gänse

Mit schwarzen Körnern: Elend, Not, Gewalt.

Die Blumen: Liebe, Hoheit, Güte fallen,

Die goldnen Gänse zeigen Raubtierkrallen ...


Und Einer hebt vom düstern Hintergrunde

Sich silberleuchtend ab, der langsam naht,

Sein Blick ist schmerzreich wie von tiefer Wunde

Und doch so mild, wie wenn ein Gott ihn bat.

Ich harre, Herr des Lebens, jener Stunde:

Die goldne Sense sinkt vor höchster Tat,

Die Blumen neigen zart sich dem Befreier,

Und sanfte Schwäne ziehn auf heiligem Weiher.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 118-119.
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