Venezianische Nacht auf dem Zürichsee

[29] Die Lampions gaukeln auf dem See,

Laut zischen nach unten die sprühenden Garben,

Das Glühlicht scheint wie Mondesschnee,

Hellt weit die Flut vom hohen Quai,

Bengalisch leuchten die Farben,

Bis matt sie im Dunkel erstarben.

Die Königin der Gondeln naht

Langsam auf stolzem Spiegelpfad.

Der Buntlaternen zauberisch Tor

Spitzt diademisch sich empor.

Darunter spielt die Stadtmusik

Ein südlich Barkarolenstück.

Leuchtkugeln steigen und neigen

Ihr schön verscheidendes Haupt,

Brandfrösche knattern im Reigen,

Das Feuerrad schwirrt und schnaubt.

Vom Ütliberg aufschimmert's hell,

Mit Blenden grüßt das Kulmhotel.

Mattblinkend winken Mond und Sterne

Aus meeresdunkelblauer Ferne.

Das ganze Ufer schwarzgedrängt

Staunt in das rot-blau-grüne Spiel,[30]

Die Fahne des Vergnügens schwenkt

Frau Neugier hoch am Vorderkiel.

Verliebte Leute, Bräute, Greise

Genießen laue Luft und Licht,

Der eine jauchzt, der summt was leise,

Der Dichter schaukelt sein Gedicht.

Er ist so farbenlustberauscht,

Er schaut in Wundertraum und lauscht,

Wie all die kleinen Lichter hüpfen,

Leuchtschlangen durcheinander schlüpfen,

Wie nach dem Takt der Melodien

Sie tanzen, kreisen, suchen, fliehn.

Die schwarzen Zuschauer, die flimmernden Nachen,

Er sieht sie mit Trauer, er sieht sie mit Lachen –

Das springt empor bei japanischem Licht,

Geistessprühfeuer bezaubert sie nicht.

Aber wir alle freun uns am Schein ...

Da schleift hochaufgedonnert pikfein

Starrblickende Dirne vorüber,

Sie lockt nicht der wellengespiegelte Schein,

Zwanzig Fränkli wären ihr lieber.

Ihre Hechtaugen spähen nach Beute,

Ein günstiger Fangabend heute.

Und hinter ihr an der Tochter Arm

Tastet ein blinder Mann durch den Schwarm.[31]

Die Raketen platzen in seinem Ohr,

Er träumt mit dem Auge, das er verlor.

Sein Töchterlein muß ihm berichten

Von den schönen, bunten Geschichten.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 29-32.
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