Die Flucht der Zeit

[16] Hienieden ward dem Lenze

Ein kurzes Sein verlieh'n:

Kaum wanden wir uns Kränze,

So ist er schon dahin.


Der Sommer währt nicht lange

Mit seiner Sicheln Schall:

Kaum röthet unsre Wange

Der wärm're Sonnenstrahl.


Bald wird der Himmel trüber,

Die Frucht entfällt dem Baum –

Schon ist der Herbst vorüber,

Wir freuten sein uns kaum.


Nun steigt der Winter nieder

Und schließt des Jahres Reih'n!

Es schweigen alle Lieder.

Er gräbt die Blumen ein.
[17]

So eilen unsre Freuden,

So endet alle Lust,

So schwinden auch die Leiden,

Kaum sind wir's uns bewußt.


Nur was nach oben ziehet,

Das kann nicht untergehn;

Was heilig in uns glühet,

Das wird kein Nord verwehn.


Und dort blühn andre Lenze,

Die nimmermehr entfliehn;

Dort werden ew'ge Kränze

Um unsre Scheitel blühn.


O, laßt dahin uns streben

Schon hier im Schattenland.

All unser Thun und Leben

Sei nur auf Gott gewandt.

Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 16-18.
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Lieder (Ausgabe von 1879)
Lieder: Ausgabe von 1879
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