Vor dem Vesperbilde

[239] Seh' ich Dir im Schooß die bleiche

Blutgefärbte Gottesleiche

Mit den Wunden ohne Zahl,

Wag' ich nicht, den Blick zu heben,

Muß in tiefster Brust erbeben,

Fühle Scham und Reuequal.


Denn ich bin's, die Ihn geschlagen,

Bin der Grund von Deinen Klagen,

Von der namenlosen Qual,

Die Dein reines Auge röthet;

Denn ich habe Ihn getödtet –

Weh! mit Sünden ohne Zahl.


Schmerzensmutter! Reine! Milde!

Ja, ich will vor Deinem Bilde

Laut bekennen den Verrath.

Wollt' ich meine Schuld verschweigen,

Müßten selbst die Steine zeugen

Wider meine Missethat.
[240]

Wisse: dreiunddreißig Jahre

Liebte mich der Wunderbare,

Er, Dein Sohn und Gottes Sohn,

Hat um mich gedient, gelitten,

Wider meinen Feind gestritten

Und – mein Undank war Sein Lohn.


O, wie hat er treu geliebet!

Hat sich in den Tod betrübet,

Weil ich Liebe Ihm versagt!

Ist in bitt'rer Schmach gestorben,

Hat mit Blut um mich geworben,

Ach! um mich, die ärmste Magd. –


Doch fortan nun Dir zu Füßen

Will ich mit Dir weinen, büßen,

Daß ich Dir erschlug den Sohn.

Woll'st, o Milde! für mich flehen,

Daß gesühnt ich möge stehen

Selig einst vor Seinem Thron.


Wiedenbrück, 1854.


Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 239-241.
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