[Es fliegt mit struppigem Gefieder]

[177] Es fliegt mit struppigem Gefieder

Ein armer Vogel in die Luft.

Der arme Vogel singt nicht Lieder

Und freut sich nicht am Blumenduft.


Ach! andres Werk hat er zu treiben,

Er sucht sich einen stillen Ort

Und darf an keiner Stelle bleiben,

Und muß beständig wieder fort.


Er möchte gern auf Erden wohnen,

Er hat die Erde gar so lieb,

Und sehnt sich nach den Regionen,

Wo man ihn aus dem Neste trieb.


Drum, soll er nicht an Heimweh sterben,

So fang' den Vogel, eins, zwei, drei!

Und soll der Freund ihn von dir erben,

So laß ihn hurtig wieder frei.
[177]

Doch soll der Vogel länger schweben,

So greif' ihn nicht mit bloßer Hand,

Sonst tötest du sein zartes Leben

Und brichst der Federn leichtes Band.


Wie mancher war in seinem Leben

Ein solches armes Vögelein,

Und mußte wider Willen schweben

Und immer in der Hetze sein.


Bis er nicht länger konnte fliegen

Und auf die Erde niederfiel;

Dort ließ das Glück ihn endlich liegen

Und suchte sich ein andres Spiel.


Quelle:
Frank Spiecker: Luise Hensel als Dichterin. Evanston 1936, S. 177-178.
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