Die Wage

[190] 1800.


Unter den Sternen hört' ich klingen die goldene Wage;

Strebend im Gleichgewicht, tönte sie Allen den Schall:

Wiedervergeltung. Er seufzet' hinab zu der Erde vom Himmel,

Und vom Felsenaltar rief ihn die Echo zurück.

Wie der Hagel anschießt und in gleichem Maaße zurückprallt,

Hier der glänzende Strahl, dort der geworfene Ball:

Also trifft sich im Winkel, im innersten Herzen des Menschen,

Gleiches mit Gleichem; es paart immer sich Folge mit That.

Lohn dem Guten und Strafe dem Bösen. Im menschlichen Herzen

Thront der Richter und wägt, klaget und zeuget und spricht,

Vor ihm das offene Buch. Im Weltgerichte der Völker,

In der Tyrannen Herz, selbst in des Heuchelnden Brust

Tönt die Stimme der Angst, des Vorwurfs, Neides und Abscheus;

Nachts und am Tag ertönt bellend der höllische Schlund.

Aber im Herzen des Frommen ist Ruh; er kennt seine That nicht;

Doch ihn lohnet sein Werk sicher mit frohem Genuß.

Auch in dem Kommen des Weltgerichts ertönet die Wage;

Höret Ihr, Völker, nicht kommen den mächtigen Tritt?

Seufzend höret Ihr nicht; doch er kommt! Die bekränzete Säule

Geht aus Wolken hervor, Großmuth und stille Geduld.

Und jetzt glänzet die Wage: »Was Ihr dem Geringsten der Menschen

Thatet, thatet Ihr mir. Kommt und genießet den Lohn!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 190.
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