An meinen Genius

[50] Am Geburtstage, den 25. August 1764.


Du Einer, mir aus meines Herrn Erbarmen

In diese Wüste mitgeschenkt!

Freund, Engelsbruder, der mir Armen

Mein Herz als Mentor lenkt;
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Der mir, dem Staubgebornen, (ach, verglimmte!)

Zwei Aethersfunken eingestreut,

Und den sein Loos der Nacht bestimmte,

Der Unschuldsruh geweiht;


Der Du mit Feuer segnetest zum Siege

Des Muths die erste Thräne ein

Und zeichnetest an meiner Wiege

Zu frühen Leichenstein,


Nach kurz durchträumtem Morgen öde Wege,

Wo ich in Klüfte, Todtenstaub,

Hinsank vor ferner Donner Schläge

Und frommer Tiger Raub,


Von Thränenblut und Schweiß durchnagte Ketten

Mit Beben küßte, bis – o Du,

Dem ich hier kniee, der Du, mich zu retten

Aus meiner Sklavenruh,


Gefühl-, gedankenlos, mich weißbeglänzet

Den Musen schenktest: Musen, ihn,

Ihn singt mein neuer Mund; bekränzet

Mit Gold, mit Hoffnungsgrün,


Jauchzt ihm mein Hut der Freiheit! – Opferschalen

Voll meiner Jugendblüthe, Dir,

Dir duften sie, den seine Strahlen

Mir decken, dem in mir


Mein Altar brennt, den oft die Lampe grüßet,

Mein Traumbild sieht, mein Morgenlied

Bald preist und, wenn es Thorheit büßet,

Hinächzt und Thränen glüht.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 50-51.
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