Der Vorhang

[81] Nach dem Altfranzösischen.


Schlaf' hinterm Vorhang, wer da will;

Ich mag ihn nicht mein ganzes Leben

Und will Euch gleich zur Nachricht geben,

Warum ich ihn nicht mag noch will.


Zuerst und primo denn: Die Lust,

Die sich zu sehr des Dunkels freuet,

Der Traum, der auch Auroren scheuet,

Sind ihrer sich nur halb bewußt.


Wo Morgen- nicht noch Abendroth

Noch Dämmerung uns mag erreichen,

Nur schwarze Schatten um uns schleichen,

Ist Phantasie der Liebe todt.


Die Muse liebt des Tages Schein;

Die Grazien und Liebesgötter,

Sie betten sich auf Rosenblätter;

Im Freien schlafen alle Neun.


Mein Vorhang ist die Unschuld mir;

Das scheue Wild kriecht in die Höhlen.

Mich soll der Welthauch frei beseelen;

Den zieh' ich mir zum Vorhang für.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 81.
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