Die Dämmerung

[17] Der Aether und die Liebe war

Das ältste hohe Götterpaar;

Sie zeugten die Unsterblichen,

Den Himmel und die Seligen.


Und tiefer in der Wolken Reich

Ward ihr Geschlecht der Wolke gleich;

Sie, ewig schön und ewig jung,

Erzeugten uns die Dämmerung.


Aus Licht und Schatten webten sie

Der Menschen täuschend Dasein hie;

Nur Dämmerung ist unser Blick,

Nur Dämmerung ist unser Glück.


Der Jugend holdes Morgenroth

Verbirget, was der Tag uns droht;

Der Blume schwülen Mittag kühlt

Ein Zephyr, der am Abend spielt.


Und Ohr und Auge täuscht sich gern;

Das Herz, es pochet in die Fern',

Und wünscht und hat, und glaubet's kaum;

Denn auch sein schönstes Glück ist Traum.


Die Hoffnung, ewig schön und jung,

Ist uns ein Kind der Dämmerung;

Auch ihre Schwester, Sehnsucht, liebt

Den Schleier, der die Lieb' umgiebt.


Ich dank' Euch, die Ihr um mich schwebt,

Daß Ihr die Hülle mir gewebt;

Doch Lieb' und Aether, leiht, o leiht

Mir einst ein heller Pilgerkleid!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 17-18.
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