Die Reue

[55] Tröst', o, tröste Dich, mein Herz,

Ueber Deine Leiden!

Blicke vor- und hinterwärts!

Süß ist überwundner Schmerz

Unverdienter Leiden.

Und verdientest Du den Schmerz,

So verdiene Freuden!


Irrthum zwar und Thorheit sind

Unser Loos hienieden,[55]

Mißgestaltet, schwach und blind;

Jeder Fehler ist ihr Kind

Und verscheucht den Frieden.

Ach, der süßen Feinde sind

Uns so viel beschieden.


Aber jedem Fehl verband

Jene ew'ge Treue,

Jener göttliche Verstand

Seiner Liebe bestes Pfand,

Daß sie uns erneue;

Besserung wird sie genannt,

Menschen nennen s' Reue.


Sanft zieht sie hinweg den Flor

Von des Fehlers Blicke;

Warnend kommt sie ihm zuvor,

Oeffnet sanft sein taubes Ohr,

Führt ihn zart zurücke;

Durch der Reue niedres Thor

Wandern wir zum Glücke.


O, wie fröhlich fühlt das Herz

Dann verlebte Leiden,

Segnet seinen Arzt, den Schmerz,

Blickt mit Schauer hinterwärts,

Siehet vorwärts Freuden!

Neu und freier wird das Herz

Durch besiegte Leiden.


Dank der mütterlichen Hand,

Die den Kelch uns mischet,

Die aus Schmerzen Lust erfand

Und mit Lust den Schmerz verband,

Der sie neu erfrischet.

Dank der mütterlichen Hand,

Die den Kelch uns mischet!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 55-56.
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