Lied des Lebens

[38] Flüchtiger als Wind und Welle

Flieht die Zeit; was hält sie auf?

Sie genießen auf der Stelle,

Sie ergreifen schnell im Lauf,

Das, Ihr Brüder, hält ihr Schweben,

Hält die Flucht der Tage ein.

Schneller Gang ist unser Leben;

Laßt uns Rosen auf ihn streun!


Rosen, denn die Tage sinken

In des Winters Nebelmeer;

Rosen, denn sie blühn und blinken

Links und rechts noch um uns her.

Rosen stehn auf jedem Zweige

Jeder schönen Jugendthat.

Wohl ihm, der bis auf die Neige

Rein gelebt sein Leben hat!


Tage, werdet uns zum Kranze,

Der des Greises Schläf' umzieht[38]

Und um sie in frischem Glanze

Wie ein Traum der Jugend blüht.

Auch die dunkeln Blumen kühlen

Uns mit Ruhe, doppelt süß;

Und die lauen Lüfte spielen

Freundlich uns ins Paradies.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 38-39.
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