Mitternachtsgesicht meines Genius

[52] 1764.


Er stand! noch beb' ich, dem ich verwegner Thor,

Verwirrt und nachtvoll, Leben und Tod umringt,

Pochend murrete! – Mitternächte,

Wag' ich die Stimme des Rächers? Weh!


»Mich sandt' (Dein Trotz hat seinen Olymp erstürmt),

Der, eh Du wardst, tief schauend Aeonen durch,

Dich gewählt zum menschlichen Liebling,

Fleisch aus Staube Dir webt', und sandte


Mit dem von seinem Feu'rmeer entflossnen Tropf,

Dich zu durchgießen, oft den Ersterbenden

Aufzuwecken und zart zu bilden,

Murrender Jüngling, und Dich zu leiten;
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Mich, den nur Jova sendet: Dein Genius

Sei Du Dir (ernsthaft rührt' er mein Auge an),

Licht und Dunkel zu sehn, und Menschheit

Herzhaft zu wagen, und kenn und hab Dich!«


Da schwand er. Weh mir! Führer auf immer mir,

Dem kühnen Knaben, der, aus den Armen ihm

Losgerissen und glühnd im Auge,

Rennt in den Orcus, ein Sklav! denn ach!


Mein Fürst ich? – Scepter, Sklaven, wo seid Ihr denn?

Mein Herz brüllt Aufruhr; Chaosruinen sind

Haupt und Busen; der Seufzer schwächster

Tritt meine Krone zu Staub! Wer schützt,


Den Du fliehst, Engel? Höre! nicht wein' ich Dir,

Den Gott ruft! Geh, doch bringe dies Wort vor Gott,

Meine Seel' in dem Wort! denn, Seele,

Außer ihm göltest Du (wiss' es!) nichts.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 52-53.
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