An meinen Landsmann Johann Winckelmann

[258] Juni 1768.


Wohin? Wohin

Reißest Du, blutklauige Mörderin,

Mit glühendem Aug', im Furienhaar,

Den Sohn der Schöne? Selige Schaar,

Die er besang! – besang

Die Blicke, die kühn,

Unfühlbarschön über Welt hin ziehn;

Den fliegenden Gang,

Der ist und war! Erhört Ihr nicht,

Ihr Götter! Ach! – Eu'r Morgenlicht,

Aurora raubt den Edlen nicht,

Kein Grazienfreund. Mit Adlersklaun

Kommt die Unhold, rafft im Graun

Ihn hinweg dort! – Wer? Was hör' ich? Klang

Des Himmels! Süßen Jubel, – Wer ist's? – Apoll,

Apollo! Schönster Jüngling, voll

Von Thaten! o, schön im Gang

Des Himmelsjugendköniges! Er schwang,

Auch er durch Trübsal sich hinüber, drang

Zum Himmel, und – wie allgenugsamselig! – Klang[258]

Der Hymn' umtönt den Sieger! O Klang,

Höher, als ihn sein Freund dem Augenblicke

Des dunklen, dürft'gen Marmors stahl

Hienieden und schüchtern sang.

O Seliger! Wohin hinauf

Führst Du den Erdesohn? den Lauf

Der großen Sonne! – Himmel thut sich auf!

Ich seh' die Helden! – Aus Neid, aus Bosheit, Qual

Nun ewiger Jugendfreude Gemahl,

Gott Hercules! – Riesen hat er bezwungen,

Weltverwüster, Ungötter überrungen,

Mit sieben Kränzen hinaufgeschwungen,

Harter Flamme geläutert – ruht da, überdenkt,

Auf seinen Heldenstab gesenkt,

Den Traum des Erdelebens! nun einmal

Errettet! aus Neid, aus Bosheit, Qual

Ewiger Jugendfreude Gemahl!

Die Dulderin! Im schönsten Mutterschmerz

Brach ihr Auge, brach ihr Herz!

Trinkt Götterlabsal nun! Aus Neid, aus Thränenweh

Errettet, athmet Niobe,

Ariadne, Ino, Semele

Duft der Unsterblichkeit! Mit lichten Kränzen

Umschlungen prangt Laokoon,

Und alle sel'gen Götter glänzen

Um's Vaters aller Götter Thron!

Wo ist, wo ist die Furie?

O Erdenbruder, sieh nun Deine Lieblinge,

Die Götter! Staunest noch? Entrückt

Noch starrend!

Da, der Jungfraujüngling! Schweben

Um seine Jünglingsstirne Reben,

Als Keime, die zur ersten Blüthe streben,

Nicht Wollustträume noch und Duft und hundert Frühlingsleben

Der Phantasie? – Der Edlen Lohner drückt[259]

Dem Fremdling Himmelstrank! Entrückt

Im ersten Trank der Erde Nebelhülle

Dem Sterblichen! – Entzückt,

Entzückt, was sieht Dein Aug', o Himmelsfremdling? blickt,

Erblickt (der Erde Schattenhülle

Entnebelt) Himmel! Götterfülle!

Huldreiz! Liebreiz! Schöne! Milde!

Und was der süßen Braut im schönsten Morgenbilde

Die Liebelehrerin, die Unschuldphantasie

(Mehr als Apelles lehrte sie!),

Was ihr kein Himmels-Raphael im Bilde

Des schönsten Farbenwahnes kann

Erschaffen! – O Du, nun Götterliebling! wann,

Wann Dich im hohen Schaun

Mein Anruf stören kann,

Und aus Elysium Dein Blick

Auf Deine Erdenfreund' im Schattenthal zurück,

Auf Oeser, Wille, Heyne, sinket,

Und Schönheit ihrem Auge winket –

Mein Geist, o Dämon, ruft Dich an,

Wenn er, in Stille,

Aus dunkler, schwerer Körperhülle,

Wo unter Nothdurft Schön' erliegt

Und Staub des Geistes Götterkraft und Ruh

Hienieden noch besiegt,

Wenn er, aus solcher Schattenhülle,

Traum der Vollkommenheit fernher zu tasten wagt.

O lisple mir alsdann in heil'ger Stille

Aus Deiner Götterruh

Den Laut herab, den Dir in Fülle

Der erste Blick gesagt!

Noch tast' ich schwere Träume! Du

Webst schon, ein Griechengott, in hoher Ruh

Der zweiten Himmelsjugend! War's im Thale,

Selbst Wälschlands, denn gelebt?

Nun lebest Du

Die lange Himmelsjugend![260]

Und hast Du sie, im ew'gen Geistesmahle

Die lange Jugend hinabgelebt!

Durch mehr als Erdenschön', in mehr als Erdentugend

Höher hinaufgestrebt,

O Sohn des Himmels! Sichtbarkeit,

Auch selbst der Götter, wird einmal

Dir Trug noch werden! Fließen

Die Farben alle nicht in einen Sonnenstrahl?

Ergießen

Die Strahlen alle nicht sich in ein Sonnenmeer?

Ein Urquell! Weit! allweit

Quell der Vollkommenheit!

Und wo? und was ist der?

Doch sinke, schwache Hand! Vermag

In Sonnengluth zu tauchen

Sich Dein Gesang, der schwer

Und ächzend ja gebrochnem Ton erlag?

Noch mattem Strahl erlag!

Ich seh' noch erst die Morgenröthe rauchen!

Du ihren Schein! und wer den Strahlentag?


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 258-261.
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