Das Rosenknöspchen.

Lovelace an Belford.

[317] Aus Richardson's »Clarissa«.


Hier ist ein kleines süßes Mädchen,

Kaum Sechzehn alt vor sieben Tagen,

Der ganzen Gegend eine Blume,

In zwanzig Jahren lang kaum eine

So schön, so süß ersproßte Blume.

Ich nenne sie nur Rosenknöspchen.

Nur, Bube, brich das Knöspchen nicht!


Ein Waisenkind! Ist ohne Mutter,

Ist ihres guten Vaters Freude,

Ihm Trost allein und Bild der Mutter;

Und ihre Ahn' hat's von mir weinend[317]

Erfleht, hat mich am schwächsten Herzen

Bewegt, doch nicht sie zu verführen.

Ha, Bube, thu auch Du es nicht!


Hör mein Gebot! Mit Höllenreue

Hab' ich's entweihet je! Ein Mädchen,

Das nichts als Unschuld hat und Tugend

Und dann in Hohn und Elend sinket

Und dann für Hohn und Gram und Elend

Zum Giftkelch fliehn muß! Ha, wer anders

Als solch ein Elend kann ihn wählen? –

Ruchloser Bube, thu es nicht!


Sie wird Dir dienen, wird Dir tändeln,

Wird alle süße Mädchenseele

Dir schuldlos, kunstlos Dir enthüllen,

Wird Deiner List nicht trotzen, Arglist

Argwohnen nicht, wird nie Dich locken,

Wird wie ein Lämmlein um Dich spielen.

Nur, Höllenmörder, würg es nicht!


Ihr kleiner Busen schlägt schon Liebe;

Nur weiß es noch nicht, was er schläget,

Ist gut nur noch dem süßen Hänschen,

Und oft (oft hab' ich sie belauschet!)

Begegnen schon, wie Unschuldpilger,

So gern, so sanft sich ihre Blicke;

Dann hüpft sie, froh des stummen Blickes,

Das Rehchen, fröhlicher nach Hause.


»Liebst Du auch schon, mein kleines Herzchen?«

»Ei, was ist Liebe? Meinem Hänschen

Bin ich zwar gut, auch seine Mutter

Sagt oft: ich wäre wol das Mädchen

Für Hänschen. Doch was hilft das Sagen?

Ich bin arm, er ist arm! Und Röschen

Soll Hänschen nicht unglücklich machen!«


Ha, Bube, wäre meine Seele

So gut noch wie mein Rosenknöspchen,

Aufrichtig, schuldlos, zart und edel!

Ha, meine schwarze Teufelsseele

Ist, Bube, schwarz wie Du!


Der Augenblick Genuß! Das eitle,

Das ekle Nichts! Und welche Mühe[318]

G1orher! Und nachher welche Reue!

Und welche schwarze Teufelsseele!

Sieh, Bube, das ist Höllenlohn!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 317-319.
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