Herbstlied

[379] Der Winter kommt, der Wind ist kalt,

Das Laub beginnt zu fallen;[379]

Ach, wie's Dir gehet, liebes Laub,

So muß es gehn uns Allen.


Wir sind geflochten, roll'n umher,

Umher im Rad der Zeiten,

Und wie sie rollen Jahr ins Jahr,

So geht's zu Ewigkeiten.


Ich stand einst jung, ich schwebt' umher

Im Hauch der Frühlingsweste;

Es sprühte frisch, es trieb der Saft,

So ward das Bäumlein feste.


Die Blüthen weben die Blätter herab,

Sie spreiten weiß die Erde,

Daß sanft im Regen und Sonnenschein

Zur Frucht das Knösplein werde.


Die Früchte lachen, es nagt der Wurm,

Wo die Frücht' am Schönsten lachen,

Und, voller Baum, Dich peitscht der Sturm,

Zum nackten Streif zu machen.


Sie zeucht uns an, sie zeucht uns aus,

Legt nackt uns nieder zur Bahre,

O grause Mutter, Mutter Zeit!

Und färbt und falbt die Haare.


Wirf ab! die Blüthe dauert nicht,

Daß reif die Knospe werde.

Wirf ab! die Blätter falben schon

Und wallen nieder zur Erde.


Da rauscht's von Leichen: »Brich, o Nord,

Das Dürre auch danieder!

Rauscht, Blätter! dürren Aeste, flammt!

Es sind nicht meine Glieder.«


Ha, neuer, neuer Frühlingswind,

Wann wirst, wann wirst Du wehen,

Da Laub und Blüth' und Frucht ersteht

Und nimmer wird vergehen?


Ha, neuer, neuer Frühlingswind,

Du wärmst mein Mark verborgen;

Noch in der Wurzel lebt mein Saft,

Und frisch ersteh' ich morgen.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 379-380.
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