Traumbild der Geliebten

[293] Die als ein Himmelsengel mich,

Ach, kurz begegnete,

Zu Schottlands Hütte feierlich

Mich scheidend segnete

Und dann noch brünstig mich umfing

Und dann an meinem Bette

Noch wie an meinem Schatten hing,

Ob da sie Hütte hätte.


Ach, Schottlands Hütte ist hier nicht,

Ein leeres Haus ist sie!

Greis Fingal's Menschen sind hier nicht,

Sind Alle Sklaven sie!

Und ich, mit armem, wüstem Blick

Such' ich mich ringsum wieder:

»Komm, Traum! kommt, Brüder, noch zurück!«

Und finde keine Brüder!


Nicht Einen, Keinen find' ich hier,

Der, Bruder für mein Herz,

Mich liebte, mit mir lebte, mir

Im Freudeton und Schmerz,[293]

Ach, einen Mitlaut lispelt' zu,

Nicht Einen hier gefunden!

Drum sink' ich jetzt in welche Ruh!

Mit schmerzbetäubten Wunden,


Und speise mich mit Träumen! Ist,

Wo ist der süßste Traum? –

Du, Schottlands Hütte, wo? wo bist

Du, rauschend wilder Baum,

Der noch auch edle Seelen kann,

Ein liebes Dach, beschirmen,

Vor Niedertracht beschirmen kann

Und bergen froh in Stürmen!


Ach, unser freies Vaterland,

Was Sklaven nur gebiert,

Wo unter Knechtetitel Tand

Sich Muth und Geist verliert,

Wo Viehesdummheit, Stolz und Neid

Und Affenaberglauben

Und Pöbelniederträchtigkeit,

Ach, welch ein Herz mir rauben!


Wegrauben edles Selbstgefühl

Und That- und Lebensmuth,

Der besten Stunden süßes Spiel

Im warmen Jugendblut

Und Menschheit rauben! – ach! und mir

Sind wenig meiner Tage.

Und, Mutter Vorsicht, dank' ich Dir

Die wenigen als Plage?


Komm, Traumesmädchen, komm zurück

In Deiner lichten Spur,

Mit Deinem Liebethränenblick,

Auch als ein Schatte nur,

Als Traumbild nur, mit Zauberwort,

Und sprich zu meiner Seele

Und schweb und zeige mir den Ort

Und zeig ihn meiner Seele:


»Dort wird, dort wird die Hütte sein,

Der Liebe sel'ges Dach,

In jener Au', in jenem Hain!«

Ach, Zephyr, sprich ihr nach,[294]

Die so als Himmelsengel mich

Im Göttertraum begegnet

Und noch zu Schottlands Hütte mich,

Prophetin, mich so segnet!


Drum, Mädchen, wenn in dieser Welt

(Mit Seele spricht's mein Blick)

Das Schicksal stets in Ketten hält

Und trennet uns zurück:

In letzter Lebensstunde wird

Dein Bild noch vor mir schweben,

Und nur von ihm zur Hütt' geführt,

Such' ich ein ander Leben!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 293-295.
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