Versuchung Jesu

[464] Der Gottessohn vom Jordan kam,

Noch schallte Vaterswort:

»Mein Eingeliebter, der bist Du!«

Ihm in der Seele fort.


Noch schwebt' mit zartem Flug auf ihm

Die Taub' in Blick und Sinn,[464]

Wo Vatershuld und Reinigkeit

Und Gottheit wohnte drin.


Wohin? wo wendest Du den Gang,

Gepriesner Gottessohn?

Gehst einsam, Menschen fern, und tief

In Wüsteneien schon.


Er geht und klimmt zu Gott empor,

Vergisset Speis' und Trank

Und ringt und betet, vierzig Tag'

Und vierzig Nächte lang.


Und kommt zurück, und wüthig fällt

Nun auf ihn Hungersnoth;

Um ihn die weite Wüstenei

Und Thiergeheul und Tod.


»Bist Du nun, bist Du Gottes Sohn

In Deiner Hungersnoth?

Sieh diesen Stein (der Satan sprach's)

Und sprich den Stein Dir – Brod!«


Und neu mit Löwenklauen fällt

Der Hunger an sein Herz;

Um ihn die weite Wüstenei

Und in ihm Todesschmerz.


»Versucher,« spricht er, »das ist Dein –

Und was ist Gottes Wort?

Nicht Brod allein, auch Gottes Hauch

Webt unser Leben fort.


Das Wort aus Gottes Mund, es ist

Dem Armen Himmelsthau.«

Er sprach's; die Wüste hört' das Wort

Und ward zur frischen Au'.


Und schnell die frische Au' ist hin,

Er steht auf Tempelshöhn.

»Schau nieder! wer kann schwindellos

Ab in die Tiefen sehn?


Und Du, Du kannst, ein Gottessohn,

Hinab Dich senken. Fort

Trägt Dich aus Gottes Mund ein Hauch

(Auch ich weiß Gottes Wort);
[465]

Der Engel Schaar um Dich, sie wird

Dir ihren Fittig leihn,

Ihr Arm Dich tragen, und Dein Fuß

Berühret keinen Stein.«


»Gott, Deinen Herrn, versuch ihn nicht!«

Spricht Gottes Sohn, und nah

Dem Sturze blickt sein Angesicht,

Als wär' ihm Eden da.


Hin war der Sturz; ein Zauberfeld

Mit aller Erde Glück

Lag um sie; Herrlichkeit und Pracht

Ging, wie im Augenblick,


Vorüber. Blähend, eingehüllt

In Glanz und Pracht und Schein

Stand Satan. »Sink und bete an

Mich – schnell ist Alles Dein.«


»Hinweg, Du Satan!« sprach der Held.

»Gott, ihn, den Herren Dein,

Sollst Du anbeten, dienen ihm

Und dienen ihm allein!«


Hin wich der Satan, zitterte

Hinweg des Sohnes Blick,

Dem Engelschaar und Seligkeit

Und Himmel kam zurück.


Und fort ging Jesus seinen Gang,

So fern von Menschenruhm,

Von Reichthum, Hoheit, Lust und Pracht,

Und ging ins Heiligthum.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 464-466.
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