Erster Gesang

[212] O Muse, singe mir den hohen Rath

Des Menschengottes mit der Menschenschaar,

Wie er durch Nebel und durch Dämmerung,

Durch Finsterniß und Irren sie geführt

Und führen wird zum Lichte! Singe mir,

Wie er die Strahlen dieses Lichts zerstreut

Durch Völker, Zonen und Jahrtausende,

Und alle kennt und alle sammeln wird

Zu einer Sonne der Glückseligkeit!


Allgütiger, begeistre, lehre mich!

Du mußt mich lehren! Denn wer bin ich Staub,

Daß ich auf Lichtesflügeln streb' empor

Und Deinen Rathschluß höre? Wer bin ich,

Daß ich hinein in jenes Dunkel seh',

Wo die Vergangenheit die Zukunft vird

Und im erstorbnen Keim der Gegenwart

Der Baum der Nachwelt blühet? Wer bin ich,

Zu schaun, wie bittrer Tod das Leben ist

Und tiefe Tiefe sich zur Höhe schwingt

Und sich in Höhn und Tiefen überall

Dein Vaterantlitz offenbaret? Hell

Wird meine Leyer; denn ein Gottestrahl

Berührt sie, wecket ihre Saiten auf

Zu seinem Nachhall, und mein Auge glänzt,

Mein Herz schlägt fröhlicher; denn, Brüder, hört's,

Euch Menschen sing' ich Eures Schicksals Gott.


In dichten Finsternissen lag ich tief

Verhüllt und irrte mich an Gottes Pfad[212]

Mit seinen Menschen. Sind sie oder nicht

Geschöpfe seiner Hand, zum Licht ersehn,

Zur Tugend, zur Glückseligkeit? Sie sind

Dahingeschleudert in des Erdballs Nacht,

In Wüsteneien, Abgründ', unter Eis

Und kalte Felsen, in den dürren Sand,

Und wo die heiße Sonn' ihr Hirn verbrennt

Und ihnen Saft und Muth aus allen Röhren

Hinwegkocht, sind verschlagen auf der See

Bergspitzen, in der Wälder Labyrinth,

Zu Leviathan's Zähnen, Tigerklau'n,

Des Löwen Rachen; ach, und schrecklicher,

Furchtbarer noch, in Menschentigers Klaue,

In Menschenlöwen Rachen, untern Fuß

Des Wütherichs, des Kriegers, in das Netz

Des Menschenfängers, der nicht Leiber nur,

Der Seelen tausendfältig-künstlich fängt

Und sie zu seinem Leckermahle würgt

Und Gott verhöhnet. Meiner Brüder Schaar,

Sie gehn, wie Fisch' im Meer und wie Gewürm,

Das keinen Herren hat, des Adlers Raub,

Des Geiers Speise. Und blickt irgendwo

Ein Retter, ein wohlthätig Licht empor,

Ein Stern in dunkler Nacht, so wappnet sich

Ringsum die dunkle, scheußlich kalte Nacht,

Ihn wegzutilgen mit des Regens Guß,

Mit Donnerwolken rings ihn zu verbaun,

Daß auch sein holder Strahl dem Wandrer nur

Ein Blitzstrahl werde. Sog nicht Tyrannei

Aus jeder Rettung neue Kräfte? schlang

Und schmiedete sie immer fester nicht

Das kaum zerschlagne Band? und thronte nun

Auf Menschenschädeln nicht allein, sie thront'

Auf Menschenseelen – Trägheit ihre Burg,

Verzweiflung ihre Feste! Waget's noch

Ein Mensch, zu sehn, was Gott und Teufel sei?

Und was er sah, es laut zu sagen? Dem

Die Stimme zu verstopfen in den Schlund,

Der Gott den Teufel nennt, den Teufel Gott,[213]

Und auf den Nacken seiner Brüder tritt

Und Ruh und Unschuld höhnet? Waget's noch

Ein Mensch, dem andern Wahrheit zu vertraun,

Arznei dem Kranken, dem die Arzenei

Ja bittres Gift nur würde? Heucheln sie

Sich nicht mit süßen Aeffereien todt

Und freuen sich des Todes? Findet sich

Aus Irrthum irgendwo ein Fünkchen Wahrheit,

Schnell muß das Fünkchen Wahrheit wiederum

Zum Irrthum werden. So dreht wunderbar

Der Völker, Zeiten, der Geschlechter Rad

Sich auf und ab, erhebet oder stürzt,

Zerquetschet aber immer. Sind wir weiter

Gekommen in der Zeiten Wirbellauf?

Sind wir zurück? Was ist geschehen, das

Nicht jetzt geschäh'? und was geschiehet, das

Nicht immerdar geschehen werde? »Sieh,«

Sprach ich zu mir und nagete mein Herz,

»Den Aufgeklärten hier, der Tugend höhnt

Und Gott verachtet, Andere verführt

Und sich ermordet; sieh den Wilden dort

An Seelands Ufer, der den Schlamm des Meers

In faulen Fischen frißt und kaum die Sonn'

Erblickt und einen Gott kaum nennet! – ha!

Den Gott, der ihn auch zur Unsterblichkeit,

Zu seinem Bild erschaffen!« – Da versank

Mein Geist in öden Schlummer. Vor mir stand

Ein schöner Engel; Licht war sein Gesicht,

Und Sonnenstrahlen seine Flügel; Glanz,

Wie holde Regenbogenschöne, floß

Sein Kleid hinunter. Er berührte mich

Mit einem Sternenstabe, wie er dort

Am Firmament in hellen Nächten brennt.

Der Stab erweckte mich, verwandelte

Mir mein Gebein; der Staub fiel ab von mir.

Die Hülle sank; mein Herz ward ruhig; auf

Gen Himmel zog mich seine Gegenwart

Ihm nach, ihm nach. »Ich bin der Genius

Des menschlichen Geschlechts!« sprach er zu mir.

»Sieh um Dich! wo ist Deine Erde?« Ich

Sah rings umher und sah nur Sternenglanz

Und schwebete im hohen Sternenchor[214]

Und hörte ihren Klang. Ich hörete

Der sieben Stern' um unsre Sonne Klang

Und sah auch meine Erd' – ein kleiner Ball

Mit ihrem Mond, ein leiser Uebergang

Zum Mittelpunkt, der Sonne hohen Einklang.

Mein Herz ward Sphärenharmonie. Ich wagte

Den Genius nicht anzuschaun. Er sprach:

»Sieh, Murrender, worüber murrtest Du

Im Winkel Deiner Höhle drunten? Nennst

Du das Vernunft, wenn Du den kleinen Theil,

Ein Nichts, fürs Ganze nimmst? das Jetzt

Der Erdengegenwart, der schnellesten

Vergänglichkeit, fürs Unvergängliche,

Fürs Ewige? Sieh um Dich! Deine Welt,

Ist sie nicht Ton nur in der Melodie

Der Sonnensterne? welch ein kleiner Ton!

Und Du auf dieser Saite welch ein Nichts,

Ein kleiner Nachhall des verhallenden

Verstummens! Sieh umher! die sieben Sterne

Sind Ruhestätten für den Wandrer nur,

Der in sein Vaterland, die Sonn', hinaufeilt!

In alle sieben Sterne sind die Klänge

Der Fähigkeiten zur Vollkommenheit

Nach Maaß und Zahl des weisen Schöpfers, des

Urkünstlers, schön vertheilet. Deine Welt

Ist nur ein Mittelklang, doch näher schon

Dem hohen Einklang als den gröberen

Und streitenden Vortönen. Die Vernunft

Des Menschenvolks mit ihrer Freiheit ist

Das erste Auferwachen zur Natur

Der Seligen in wahrer Wirksamkeit

Und Geistesschöne. Rüste Dich hinauf

Und sieh nicht hinter Dich, was nach Dir bleibt!

Was nach Dir bleibt, eilt auch in Gottes Reich,

Langsamer und auf niedern Sprossen nur

Hinaufwärts. Laß dafür, der sie gemacht,

Den Vater, sorgen! Du entschüttele

Den schweren Staub und werde Himmelslicht

Und werde Ruh! Die niedern Genien

Der Erd' und ihrer Reiche sollen Dir,

Was diesem hohen Himmelsglanze viel

Zu niedrig wär', erklären. Steig hinab,[215]

Und immer schwebe Dir der Hochgesang

Der sieben Stern', ihr unauflöslich Band,

Das Eilen, das Verschlingen ihres Laufs

Zum Mittelpunkt von ihrer Kraft und Art

Und Zweck im Ohr: so wirst Du selig sein

Und ruhig. Gottes Gang ist in der Nacht

Im Heer der Sterne und ein Sternengang

Voll ew'ger Harmonieen.« Da verschwand

Vor mir mein Genius; ich sank hinab

Und sah mich wiederum in meiner Hülle;

Ich schaut' den schönen Sternenhimmel an,

Wie anders jetzt! wie ruhig! Sprach zu mir:

»Kannst Du das Band Orion's, kannst das Band

Der sieben Stern' auflösen?« Sprach zum Monde:

»Wer bist Du, Tröster meiner Einsamkeit,

Mit Deinem matten, sanften Strahle? Mein

Gefährt' hienieden in der Wanderschaft,

Der Erde Wallfahrt, und im Tode mir

Vielleicht ein Ruheort, der erste Schritt

Des langsam zur Vollkommenheit hinauf

Steigenden Geistes! Paradies vielleicht

Mit süßen Träumen von der Unterwelt

Verlebten Zeiten; Paradies vielleicht

Mit süßern Träumen von der Oberwelt

Schon nahen Seligkeiten. Sanfter Mond,

Und Du unzählbar hohes Himmelsheer,

Seid Auferweckung, Licht, Erquickung mir,

Wenn ich auf diesem trägen Erdenstaub

Und seiner Unruh, seinen Schatten wieder

Versinke!« Ew'ger, ew'ger Nachhall ward

In mir der Sternenklang. Wenn oft mein Geist

In Newton's Wunderschöpfung ging umher

Und sann und maß und zählte, sprach zu mir

Der Himmelsgenius: »Hat Gott den Ball

Der Erden so gewogen, wog er nicht

Das Schicksal auch der Erdbewohner? Band

Er jede Kugel mit noch feineren

Als Strahlenbanden an die große Sonn',

Und hätte nicht die Scenen aller auch

Daran gebunden?« Dann ward Newton's Bau

Mir ein Gebäude der Unsterblichkeit,

Mit Erden, Welten, Sonnen aufgeführt[216]

In aller Himmel Wüsten. Und mein Geist

Stieg fröhlich dann von Welt zu Welten fort

Und sang den Schöpfer stets in neuem Ton

Des Lobes, bis er Welten übersprang

Und, in dem Meer der Allvollkommenheit

Gebadet, selbst der Erden Führer ward! –


Wohin verschlägst Du, mein Gesang, im Strom

Der Hoffnungen und alles Sphärenklangs

Und aller Himmelsfluthen? Komm hinab

Von jenem Milch- und Strahlenufer, komm

Hinab zu Deiner Erde! Konnte Gott

Sie anders bilden, als ihr Stand und Ort,

Ihr Leim und ihres Lobgesanges Ton

Im hohen Sphärenliede forderte?

Und nach der Erde wardst Du, armer Mensch,

Von Staube Staub, zu dieser dicken Luft,

Zu dieser Sonnenferne, diesem Drehn

Und Wanken Deiner Erd' auch Du ersehn,

Gemacht so bildsam, daß Dein feiner Staub

In Nord und Süd und Ost und Westen, dort

In Eisgebirgen, hier im Gluthstrom lebt,

Im Meer hier, dort in dürrer Wüstenei,

Und überall der Erden Herrscher wird

In seines Ortes Seele. Welch ein Thier,

Welch anderes Geschöpf bekam wie Du

Die Bildsamkeit, zur Bildsamkeit Verstand,

Vom Baum des Schnees und der Sonnengluth

Die vielgefärbte, mannichfalte Frucht

Glückseligkeit zu brechen und das Gut

Der Fremde, als ob's nirgend wirklich sei,

Sanft zu vergessen? Preise, mein Gesang,

Den Geber auch für das, was er versagt,

Für jeden süßen Wahn der Erdenlust,

Der täuschenden Alleinglückseligkeit!

Denn muß nicht jedes Herz und jeder Blick

In Säften seiner Hülle froh sein? Muß

Nicht Schwachheit unsre liebe Dämmrung sein,

Die hier den Lappen, dort den Indier,

Den Tartar dort, den Feuerländer dort

Allein-glückselig macht, daß Niemand tauscht,[217]

Den Andern Jeder, Keiner sich beklagt,

Und stirbt auf seiner armen Scholle reich

Und weis' und glücklich? Preis' ihn, mein Gesang,

Daß er des Menschen kurzes Lebensziel

Nach seinem Staube, seiner Erde Drehn,

Nach ihrer Leid- und Freuden möglichstem

Genuß bestimmete! So kurz der Weg

Dem Wanderer zu seiner Vaterstadt

Je werden konnte, kürzt' er ihn. Er gab

Der größesten, zahllosen Menschenschaar,

Den Kindern, schnellen, flücht'gen Durchgang nur

Durchs Erdenleben. Manches siehet kaum

Mit einem Blick die Sonne, manches lernt

Im süßen Vater, Mutter-Namen nur

Den Namen Gottes lallen und entweicht:

Es war ein Mensch und wird ein höhrer Mensch,

Ein Seliger, ein Engel. Dieser Baum,

Der frühreif schon so schöne Blüthen trug,

Er wirft die Blüthen ab und welkt hinweg;

Sie sollten, durften, konnten alle nicht

In dieser schweren Luft zu Früchten werden.

Des Mannes Feuer brennt ihm auf sein Herz,

In seinen Adern quillt der Flammenstrom,

Der früher ihn gen Himmel tragen soll:

Er hatte Viel in Wenigem gelebt

Und Viel genossen, Viel ertragen. Soll

Er noch die Hefen seines Bechers kau'n,

Die jenes Erdethier so gerne trinkt

Und noch nach mehrern dürstet? Alle Welt

Ist des Gesanges meines Gottes voll,

Des Zweckes seiner Schöpfung. Der Barbar

Und Weise, Griech' und Neuseeländer stimmt,

Obwol verschiednen Tons, verschiedner Höh,

In einen Lobgesang: »Wir waren Mensch!

Gemacht, die Schöpfung zu begrüßen, Gott

Zu nennen, Weisheit, Erdenseligkeit

In Tropfen oder Strömen, doch als Mensch

Zu kosten und mit ganzem, halbem Durst

Zur Quelle selbst zu wandern.« Schöpfe Muth,

Unglücklicher der Erde! Durchgang ist

Dein Leben durch die Welt; Dein Himmelsbild

Ist Gottgestalt: die bleibet Dir. Du bist[218]

Mehr als der Adler, als der Elephant,

Auch Du, der Wild' und Heide, Gottes Mensch,

Bist Vaters Ebenbild, das zu ihm eilt.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 212-219.
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