Amor und Psyche auf einem Grabmal

[114] Ein Traum, ein Traum ist unser Leben

Auf Erden hier.

Wie Schatten auf den Wogen schweben

Und schwinden wir

Und messen unsre trägen Tritte

Nach Raum und Zeit;

Und sind (und wissen's nicht) in Mitte

Der Ewigkeit.


Nach manchem voller Müh und Sehnen

Verseufzten Jahr

Umarmte sich in frohen Thränen

Ein liebend Paar.

Der Mond sah freundlich auf sie nieder;

Ein zarter Ton

Aus allen Büschen hallte wider:

»Endymion!


Ach, daß uns ewig, ewig bliebe

Der Augenblick!

Im ersten holden Kuß der Liebe,

Das reinste Glück!«

Verstummend, halbvollendet weilte

Das süße Wort;

Die Seel' auf Beider Lippen eilte,

Sie eilte fort.


Denn sieh, ein Engel schwebte nieder

Zu ihrem Kuß

(Gold, himmelblau war sein Gefieder),

Ihr Genius.

Berührend sie mit sanftem Stabe,

Sprach er: »Erhört

Ist Euer Wunsch. Dort überm Grabe

Liebt ungestört!«


Entschwungen auf dem Hauch der Liebe,

Im reinsten Glück,

Gewiß, daß ihnen ewig bliebe

Der Augenblick,[115]

Auf amaranthnen Auen schwebte

Das holde Paar

Mit Allem, was je liebt' und lebte

Und glücklich war.


Mit Allem, was in Wunsch und Glauben

Sich je erfreut,

Genossen sie in vollen Trauben

Unsterblichkeit.

Des Weltalls süße Symphonieen

Umtönten sie;

Der Liebe süße Harmonieen

Durchwallten sie.


»Wollt Ihr zurück in jene Ferne

Auf Euer Grab?«

Sie sahn vom Himmel goldner Sterne

Zur Erd' hinab.

»O Genius, die Zeit danieden

Ist träge Zeit;

Ein Augenblick hier giebt uns Frieden

Der Ewigkeit.«


Sahst Du auf jenem Grabeshügel

Die Liebenden?

Der erste Kuß gab ihnen Flügel,

Den Seligen.

Und daß ein Bild von ihnen bliebe

Im ew'gen Kuß,

Verewigte hier Seel' und Liebe

Der Genius.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 114-116.
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