An Auroren

[119] O zögre noch, holdseligste der Schönen,

Aurora, laß die Thräne Dich versöhnen,

Die Thräne, die Dir reine Liebe weiht!

Wenn Du in Deines grauen Tithon's Armen

Zu früh erwachst, so weile, hab Erbarmen!

Für uns, für uns ist es zu frühe Zeit.

Die keusche Luna blickt von ihrem Throne

Gefällig noch und gönnt Dionens Sohne

Ihr sanftes Licht der Herzvertraulichkeit.


»Und komm' ich denn, um Euer Glück zu stören?

Beneidend komm' ich, Euer Glück zu mehren,

Und sag': ›Es ist nicht gestern, es ist heut.‹

Mit neuer Liebe komm' ich Euch zu krönen

Und gebe Blumen, Jünglingen und Schönen,

Erfrischend sie, der Morgenröthe Kleid«.

O Malerin Aurora, weile, weile!

Den Liebenden zu ihrem schönsten Theile

Sei nie ein Gestern, sei ein ewig Heut!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 119-120.
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