Das erträumte Paradies

[125] Romanze.


Von Vater Adam's Lebensart,

Was ist uns überblieben?

Wie uns die Bibel offenbart,

Hat er den Pflug getrieben;

Nur was dem Vater Kräfte gab,

Ward bald den Söhnen Plage;

Fritz Adam spannt' am Morgen ab,

Franz Adam am Mittage.


Sie wanderten ins Paradeis

Zurück mit Weib und Kindern;

Da wandelt' auf Krystall und Eis

Ein Cherub, dies zu hindern.

Sogleich umfloß sie Nebelwahn

Vom neuen Weisheitsbaume;

In herrlichen Entwürfen sahn

Ein Eden sie – im Traume.


Und naschten da nach Herzenslust

(Was kann den Hunger stillen?)

Und kleideten sich schambewußt

In Feigenblätterhüllen.

Ihr Paradies gerieth zum Staat

Von viel Kategorieen;[125]

Die Distel sollte zum Salat,

Der Schleh zur Rose blühen.


Auch fanden sie der Künste viel,

Vor andern Schwert und Eisen,

Und priesen es mit Saitenspiel;

Es war gar hoch zu preisen.

Und mordeten freundbrüderlich

Manch ehrlich frommen Abel

Und baueten großmeisterlich

Zum Himmel manches Babel.


Ihr Adamskinder, auf! hinweg

Vom langgebüßten Truge!

Zum Glücke führt ein enger Steg;

Frisch wieder hin zum Pfluge!

Aus Eurer Mutter Lebensschooß

Kommt neue Kraft Euch wieder;

Nur Thätigkeit ist unser Loos,

Nur thätig sind wir Brüder.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 125-126.
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