Der Wald und der Wanderer

[152] Der Wald.


Komm, o komm in meine Schatten,

In der Ruhe Aufenthalt,

Wanderer der heißen Straße,

Wo Dein Herz unruhig wallt.


Meine frischen Zweige wehen

Lebenskraft dem Matten zu,

Und mein Athem duftet Balsam,

Neuen Muth und süße Ruh.


Schöner geht die Sonne nieder

Hinter meiner grünen Nacht;

Schöner kommt der Morgen wieder,

Wenn der Vögel Chor erwacht.


Schöner blinkt in mir die Quelle

Und der einsam stille See,

Wo die treue Turteltaube

Girret Deines Herzens Weh.


Der Wanderer.


Rauschen Geister in den Lüften?

Spricht die Nymphe mir im Quell?

Oder steigen Götter nieder?

Denn mein Blick wird rein und hell.


Mit der Fichte Gipfel steiget

Meine Seele himmelwärts;

Mit der Birke Zweigen neiget

Sanft zur Ruhe sich mein Herz.


Und die grüne Fußtapete

Wiegt mich ein auf seidnem Moos;

Neben dieser goldnen Blume

Bin ich selig, und wie groß!
[152]

Horch! aus jener alten Eiche

Tönt ein Bardenton hervor,

Und der Fichten Gipfel sausen

Himmlischer; der Wald wird Chor:


»Wir, des Paradieses Geister,

In der Ruhe Aufenthalt,

Segnen Dich. Genieße fröhlich

Unsern heil'gen stillen Wald!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 152-153.
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