Die Göttergabe

[118] Nach dem Italienischen.


Hört, mit welcher holden Gabe

Mich die Liebe jüngst beglückt!

Wenn ich nie entzückt gesungen habe,

Sing' ich jetzt von ihr entzückt.


Amor, als im schönsten Liede

Ich des Gottes Siege sang,[118]

Trat zu mir und bot mir Gruß und Friede,

Was er hatte, mir zum Dank.


»Amor,« sprach ich, »Deine Schwingen

Und Dein Köcher und Dein Pfeil

Sollen fürder keinen Sieg mir bringen,

Seit mir Chloe ward zu Theil.


Keine Herzen mehr verwunden

Will ich, bleibet Sie nur mein;

Alle meine Lebens-Tag' und Stunden

Will ich ihr Gefangner sein.


Deine Fackel? Ach, die Liebe

Fliehet ein zu helles Licht!

Wie, wenn Chloe mir nicht Chloe bliebe?

Amor, nein! die Fackel nicht!«


»Nun, Du Sohn der Täuschereien,

Nimm die Binde denn von mir!

Mehr als Alles wird sie Dich erfreuen,

Vieles schenk' ich Dir mit ihr:


Süßen Trug und holdes Wähnen,

Das für mehr als Wahrheit gilt,

Und ein immer wachsend neues Sehnen,

Das die Seele hebt und füllt.


Träume sind in ihr verborgen

(Freund, Du kennest sie noch kaum),

Hoffnungen, mit jedem neuen Morgen

Dir ein neuer Jugendtraum.


Weise Blindheit, nicht zu sehen,

Was Du froh nicht sehen willt,

Nüchternheit, nicht Fehler aufzuspähen,

Die der Liebreiz Dir verhüllt.


Schonung lieget in der Binde,

Ruh und Warten und Geduld.

Nimm sie und sei selig gleich dem Kinde,

Oder – es ist Deine Schuld!«


Seit mit dieser Göttergabe

Amor mich zum Gott entzückt,

Ist sie wechselnd mein' und Chloens Habe,

Und wir tragen sie beglückt.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 118-119.
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