Hoffnungen eines Sehers vor dreitausend Jahren

[143] Ihr Musen Solyma's, beginnt Gesang!

Gesänge Salem's fordern Engelsklang.

Die Quelle, die vom dunkeln Pindus fleußt,

Labt mich nicht mehr; mein Geist, mein reger Geist

Glüht heiliger von Jesaiah's Feuer;

Ein Seraph rührt mir meine Lipp' und Leyer.


Er sang, gerückt in bessre Zeiten schon;

Er sang: »Schaut! schauet einer Männin Sohn!

(Denn aus der Menschheit selbst entspringt ihr Glück

Und ihre Rettung wie ihr Mißgeschick.)

Die reine Sprosse strebet zart empor,

Verschwiegner Anmuth Blüthe ist ihr Flor;

In ihrem Wipfel regt sich Himmelsgeist,

Der wie ein Balsamthau zur Erde fleußt.

Durchdring ihn ganz, Du reiner Himmelsthau,

Mach ihn zum schönsten Baum der Menschenau!

Ein Lebensbaum wird er den Kranken sein,

Den Völkern seine Blätter Arzenein.

Ein Zufluchtsbaum in Stürmen, weht er Ruh

In Tagesgluth dem matten Wandrer zu.

Wenn er aufblühet, sinkt die Sünd' ins Meer,

Reinheit des Herzens kehret zu uns her;[143]

Gerechtigkeit verläßt ihr Sternenzelt,

Des Friedens Oelzweig kränzt die weite Welt.«


Flieht, schnelle Jahre! Morgen, steig empor!

Tritt, süßer Knabe, tritt ans Licht hervor!

Sieh, die Natur, sie ruft, sie ruft Dich schon;

Ihr schönster Kranz ist Deiner Thaten Lohn.

Die Wüste fühlt: »Ich werd' ein Eden sein!«

Der Dornbusch spricht: »Ich will ihm Rosen streun!«

Die Rose Saron's steigt im Duft empor;

Die Luft wird Weihrauch und Gesang und Chor:

»Er kommt! er kommt! Ihr Cedern, neigt das Haupt!

Ihr Felsen, bückt Euch, die sein Tritt belaubt!

Ihn riefen Seufzer aller Duldenden,

Ihm danken Thränen der Geretteten,

Ihn grüßt, ihm huldigt der Aeonen Lied.

Er kommt! der Taube hört, der Blinde sieht;

Er gab dem Blinden Licht, dem Tauben Ohr,

Den Stummen Lobgesang im vollen Chor;

Der Lahme hüpft. Kein Armer weinet mehr;

Denn alle, alle Thränen trocknet er.

Verfolgung ist nicht mehr, noch Haß und Schmerz;

Wer Mensch ist, heilt ein wundes Menschenherz.

Ein guter Hirt ist er; in seinem Arm,

Am Busen ihm wird der Verlassne warm.«

Ein guter Hirt wird er den Völkern sein,

Daß Menschen sich einmal an Menschen freun.

Kein Volk auf Erden schärfet mehr sein Schwert,[144]

Das freudig jetzt zur Sichel wiederkehrt.

Der Vater pflanzet, was der Sohn genießt,

Den Oelbaum, der von Saft des Fleißes fließt,

Den Palmbaum, der, ein Segensvater, blüht

Und einen Palmenhain um sich erzieht.

Was hör' ich rauschen in der Wüstenei?

Ein neuer Quell? wer rief den Quell herbei?

Der Fleiß, ein Wunderstab in Menschenhand,

Grub ihn hervor; nun wird die Wüste Land,

Nun steht in Blumen selbst die Felsenwand.

Was seh' ich? Weiden nicht zusammen hier

So Wolf als Lamm, so Mensch als Tigerthier?

Mit Blumenfesseln zieht der Knabe dort

Den Löwen, neben ihm die Löwin, fort.

Und hier? Mit Schlangen spielt das süße Kind

Unschädlich, lernet nicht, was Schlangen sind.

Ins Nest der Drachen dringt der Knabe kühn,

Der Drache selbst, er küßt umschlingend ihn.


Ihr Bilder, flieht! Die Wahrheit tritt hervor.

Allharmonie, sie öffnet Salem's Thor.

Und ewig ziehn die Völker aus und ein

Mit Gaben, die sie Gottes Altar weihn.

Wie? Gottes Altar? In der tiefsten Brust

Ist Jeder Gottes Altars sich bewußt;

Da glänzet, da erquicket und gebeut

Allvaters Güte, seine Freundlichkeit;[145]

Den Völkern in der tiefsten Schattennacht

Ist Morgenroth und Sonne auferwacht.

Und Keiner sagt zum Andern: »Lehre mich

Erkennen Gott!« Ein Jeder lehret sich.

Gott selbst, der ihnen reg' im Herzen wohnt,

Ist ihre Sonne, nicht mehr Sonn' und Mond.

Betrüger ziehn nicht mehr die Welt umher,

Blutsauger nicht mehr auf dem freien Meer;

Von Unterdrückung wie von Heuchelei,

Von Wahn und Bosheit ist die Erde frei,

Und Lust zum Guten, wie die Meeresfluth,

Bedeckt die Welt; der Mensch, der Mensch ist gut.

Was Recht und Wahrheit jedem Herzen pries,

Was Treu und Liebe Jeden hoffen ließ,

Ist wahr: »Die Erde wird ein Paradies!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 143-146.
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