57.

[313] Mit ihm zogen beide Grafen,

Ihm zu seinen Schwiegersöhnen,

Seinen Töchtern zu Gemahlen

Von dem Könige geschenkt.

Hocherfreuet war Ximene,

Hocherfreuet beide Töchter.

Alvar Fañez übergab sie

Den Gemahlen, und der gute

Erzbischof verlobte sie.


Feste werden angeordnet,

Ritterkämpfe, Prachtturniere.

Mohren, Christen, alle freuen

Auf das Fest sich, auf die Spiele.

Ach, ein böser Unfall störte

Alle Freuden, alle Lust.


Hört! Ein ungeheurer Löwe,

Den der Cid an seinem Hofe

Längst schon hielt, entkam dem Wächter,

Und als wär er angewiesen,

Lief er auf die beiden Grafen

– Eben schlummerte der Cid –,

Warf die Tafel um und brüllte

Schrecklich. Sein Geschrei erweckte

Schnell den Schlummernden; er sprang

Auf den Stuhl, erhob die Stimme;

Und der Löwe, der ihn ansah,

Der die Eisenstimme kannte,

Wandte sich und ging zurück.
[313]

Blaß von Todesfurcht und Schrecken,

Schleichen jetzt die Grafen seitwärts,

Wähnend, daß zu ihrem Schimpfe

Dieser Scherz bereitet sei.

Darin stärket sie ihr Oheim,

Der zur Heirat sie begleitet;

Und so werden eins sie alle,

Abschied schnell vom Cid zu nehmen,

Wegzuziehn mit ihren Weibern

Und zu rächen an den Töchtern,

Was am Vater sie nicht könnten –

O des schändlichen Beginnens!

O des bübischen Verrats!


Ehrerbietig treten beide

Vor den Cid, Abschied zu nehmen,

Heimzuziehn mit ihren Bräuten

Und die Hochzeit dort zu feiren;

Also wünschte es ihr Vater. –


Cid, befremdet und betroffen,

Hielt in seinem großen Herzen

Beide – nicht für niederträchtig,

Nur für launig und unhöflich;

Doch der Mutter Herz wehklaget,

Und es schlägt das Herz der Töchter,

Unter Seufzern, unter Tränen

Scheidend; Cid begleitet sie.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 313-314.
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Der Cid
Der Cid (Hardback)(German) - Common
Der Cid unter Ferdinand dem Großen.
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