58.

[314] Auf geradem Wege zogen

Erst die Grafen; wohl empfangen

Von des edlen Cids Vasallen,

Freundlich auch von jedermann.

Wer des Helden Namen kannte,

Wer des Helden Töchter sah,

War ihr froher Untertan.
[314]

Auch die Schwiegersöhne heucheln

Freundlich ihrem guten Vater,

Der beklommen von den Töchtern

Und mit Seufzen Abschied nahm;

Denn ein Strom gepreßter Tränen

Gießt sich auf der Töchter Wangen:

»Warum geht Ihr, guter Vater?

Wem verlaßt Ihr Eure Töchter?«

Warum gehst du, edler Cid?


Seitwärts ab vom Wege lenken

Jetzt die Grafen in die Wüste,

Voraussendend ihren Zug.

Und als tief sie im Gebürge

Waren, einsam von den Menschen,

Hießen sie die edlen Doñas

Niedersteigen von den Mäulern.

O der niedrigen Verräter!

O des schändlichen Verrats!


Rache jetzt an Cid zu nehmen,

An Cid, der sie nie beleidigt,

Auch des Kastilianeradels

Neid und Haß und bittern Groll

Auszugießen, einzuprägen

Unauslöschbar auf sein Haus,

Reißen sie den Schmuck der Kleider

Ab vom Busen der Vermählten,

Schleppen sie an ihren Haaren,

Geben Streiche ihren Wangen,

Ihren Rücken Riemenstreiche

Daß ihr Blut zur Erde fließt.


»Habt das jetzt für euren Vater,

Für den großen Cid, den edeln,

Der den Kastilianeradel,[315]

Der den Hof verachtend schmähte,

Der auf uns den Löwen ließ!«


Also ließen sie die beiden,

Die Unschuldgen, angebunden

Tief im Wald an einem Baum.

Und wie nach vollführtem Siege

Ziehen fürder sie die Straße.

»Wo ist unsre Herrschaft blieben?«

Fragt der Zug. Die Grafen sprechen:

»Doña Sol und Doña Elvira,

Beide sind sie wohlversorgt.«

O der niedrigen Verräter!

O des schändlichen Verrats!


Doch vom Himmel und im Herzen

Ihres edlen großen Vaters.

War die Rettung der Verlaßnen

Wunderbar vorherbestimmt.

»Reitet«, sprach der Cid beim Abzug

Zu Ordoño, seinem Neffen,

»Reitet querhin durch die Wüste!

Zu Valencia sehn wir uns.«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 314-316.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Cid
Der Cid (Hardback)(German) - Common
Der Cid unter Ferdinand dem Großen.
Herders Cid: Neu Durchgesehene Aufl, Volume 22 (German Edition)

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon