32.

[255] Hüte, hüt dich, König Sancho,

Vor Verrätern! Vor Verrätern[255]

Hüte jeder sich, am meisten

Wer Gewalt und Unrecht tut.


Aus dem Tore von Zamora

Eilt heran Bellido Dolfoz,

Seht, wie er sein Roß dort spornet!

Seht, er eilt zu Königs Zelt.

»Großer König, Gott beschütze

Eure Waffen!« spricht Bellido.

»Gott beschütz Euch!« spricht der König,

»Edler Mann, was führt Euch her?«


»Eur Vasall bin ich geboren,

Hoher König«, sprach Bellido,

»Unter Euren Fahnen stritt ich,

Unter ihnen blieb mein Herz.


Als ich dieses in Zamora

Frei bekannte und Zamora

Riet, an Euch, an Euch, den Herrn,

Willig sich zu übergeben,

Droht mir Gonzalo, der alte

Arias drohet mir den Tod.

Da ich drinnen nichts vermochte,

Komm ich, Euer pflichtverbundner

Kastilianer, hier ins Lager,

Sichern Weges Euch, o König,

Einzuführen in die Stadt.


Einen engen Gang der Mauer

Kenn ich, eine kleine Öffnung-«


Als er also im Gespräch war,

Zeigte auf dem nächsten Bollwerk

Sich der edelste der Krieger,

Arias Gonzalo, und rief:
[256]

»Sei es Euch gesagt, o König,

Euch gesagt, ihr Kastilianer:

Ein Verräter ist entwichen

Aus der Stadt, er heißt Bellido.

Vier Verräterein beging er;

Wenn er Euch die fünfte zufügt,

Keinem edlen Zamoraner

Rechnets an! Ihr seid gewarnt.«


Hüt dich, hüt dich, König Sancho,

Vor Verrätern! Vor Verrätern

Hüte jeder sich, am meisten

Wer Gewalt und Unrecht tut!


»Glaubet nichts davon, o König«,

Sprach Bellido, »was der Alte,

Euch Mißtrauen zu erregen,

Dorther von der Mauer ruft!

Wohl weiß er, daß ich die Öffnung

Und den Gang der Mauer kenne;

Und dann weiß er auch sein Schicksal.«


»Ja, Bellido«, sprach der König,

»Ich kenn ihn als einen stolzen,

Einen unbiegsamen Mann.

Ungern küßt' er mir die Hand einst.

Auf, wohlauf dann zu der Öffnung,

Zum geheimen Mauergang!«


»Jetzt, o König, würde jeder

Uns mit seinen Augen folgen –«


»Wohl dann, so gescheh es später!«

»Und am besten wärs, o König,

Erst die Lage zu besehen;

Ihr und ich, wir gehn allein.«
[257]

Eh sie gingen, stellt der König

All sein Heer hin in die Waffen;

Schwören sollten alle Führer,

Nichts zu schonen in Zamora,

Keinem Flehn zu geben nach.


Als der Cid so schwören sollte,

Sprach er: »Meine Männer werden

Wie des Mannes Freunde kämpfen,

Der nichts fürchtet; allenthalben

Werden sie mich vorwärts sehn.

Aber, abgelegt die Waffen,

Schwör ich bei dem Himmel droben,

Gegen die erhabne Schwester

Meines Königes den Degen

Nie zu zucken! Hört den Schwur!«


Einen Wurfspieß in die Rechte

Nahm der König, und sie gingen.

Längs dem Ufer des Duero

Sah man lang sie vorwärts gehn,

Bis auf einmal sich Bellido

Hob und mit dem Dolch den König

Zehnmal in den Rücken stieß.

Fallen sah man den Monarchen,

Todverwundet, doch nicht tot.


Vor Verrätern, vor Verrätern

Hüte jeder sich, am meisten

Wer Gewalt und Unrecht tut!


Unbewaffnet, wie er dastand,

Schwang sich auf sein Roß Rodrigo,

Einzuholen den Verräter.

An die Pforte von Zamora

Sprengt' er, ach, als sich die Pforte[258]

Eben hinter dem Verräter

Schloß. »Oh, zeuge mirs die Erde

Und der ganze weite Himmel«,

Rief er, »wie ich mich verwünsche

Jetzt um einen Augenblick!

Hätt ich Sporen, ach, ich wäre

Vorgekommen dem Verräter,

Hätt ihn hier am Tor ergriffen,

Ihm gegeben seinen Lohn!«


Todverwundet trug den König

Man ins Lager; alle sprachen

Zu ihm, und ein einzger nur

Sprach die Wahrheit, die ihm diente,

Ein bejahrter Rittersmann:

»König, denkt an Eure Seele,

Sonst an nichts mehr auf der Welt!«


Sterbend seufzete Don Sancho,

Als der edle Graf von Cabra

Diese Worte zu ihm sprach:

»Ach, der Könge hartes Schicksal,

Daß, wenn man sie nicht mehr fürchtet,

Dann nur ihnen Wahrheit spricht!«


»Auch zu andern, andern Zeiten

Sagt man ihnen wohl die Wahrheit;

Aber sie, sie hören nicht«,

Sprach der Cid; er sprach es leise,

Daß er seines Königs Seele

Scheidend nicht beleidigte.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 255-259.
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