33.

[259] Sterbend noch die letzten Blicke

Hingekehret gen Zamora,

Liegt der König bleich und tot.[259]

Um den blutgen Körper stehen

Ringsum seine besten Ritter;

Alle schweigen, tief verstummt.


Traurig, doch mit edler Stimme,

Bricht der Cid das tote Schweigen

Und geleitete die Seele

Seines Herrn mitleidig so:


»Unglück-unglückselge Stunde,

Als Ihr wider meinen Willen

Hieher vor Zamora zogt!

König, wer Euch das geraten,

Scheute weder Gott noch Menschen,

Hieß Euch das Gelübde brechen

Eurer heilgen Ritterpflicht.


Jetzt erscheint Ihr vor dem Richter,

Der Euch die, die Ihr bekriegtet,

Ernst als Eure Schwester zeigt,

Die ihr Leben, die ihr Erbteil,

Das Ihr ihr abdringen wolltet,

Gegen Euch verteidigte.


Ihr, das Schrecken aller Eurer

Brüder, Schwestern, Untertanen,

Was seid jetzt Ihr? Eine Handvoll

Staubes, die indes wir ehren,

Ehren wolln mit aller Macht.


Krieger, eh der Tag sich endet,

Muß ein Ritter vor Zamora,

Auszufodern alle wegen

Schändlicher Verräterei!«


Sprach es; doch niemand erhob sich;

Alle, scheint es, alle fürchten[260]

Arias Gonzalo und seiner

Vier berühmten Söhne Mut.

Alle heften ihre Blicke

Auf den Cid, der weiterspricht:


»Krieger«, sprach er, »meinen Eidschwur

Wisset ihr, mich nie zu rüsten

Gegen dies Zamora; doch

Einen Mann will ich euch nennen,

Als wählt ich ihn für mich selbst.«


Don Diego von Ordoña,

Der dem königlichen Leichnam,

Wie abwesend in Gedanken,

Traurigstumm zu Füßen saß,

Er, der Ritterschaft von Lara

Blühnder Ruhm, erhob die Stimme

Mit unmutgem Laute so:


»Hat«, sprach er, »der Cid geschworen,

Was er wohl nicht schwören sollte,

So entbrech er sich, uns einen

Herzunennen, den er wählt!

Viele Ritter hat Kastilien

Wie den er uns nennen würde,

Und – doch ohn ihn zu verachten –

Ritter selbst wie er, der Cid.

Wer die Fodrung gen Zamora

Bringt und sie besteht, bin ich!«


Damit griff er zu den Waffen

Und hinaus, hin vor die Mauer.

Da, mit aufgehobnen Händen

Und mit fürchterlicher Stimme

– Seine Augen flammten Feuer

Zorns und Ehre – sprach er so;
[261]

»Ihr, meineidige Verräter,

Niederträchtge Zamoraner,

Memmen! Denn das seid ihr alle,

Seit ihr einer feigen Memme,

Einem niedrigen Verräter,

Meuchelmörder meines Königs,

Dem Bellido Zuflucht gabt;

Denn Verräter ist der selber,

Welcher die Verräter schützt.


Ins Gesicht nenn ich euch solche,

Eure Vorfahrn, euren Abstamm

Und das Brot, das ihr genießet,

Und das Wasser, das ihr trinkt!


Daß ihrs seid, will ich beweisen:

Komme einer gegen einen,

Einer nach dem andern fünf!

Diego Ordoño ist mein Name,

Unbescholtnen Bluts, aus Lara;

Und ich werf euch Zamoranern

Nicht, weil ihr ihn nicht verdienet,

Meinen Handschuh hin; ein Pferdhaar

Werf ich euch hin statt des Handschuhs,

Gieß aus dieser Tintenflasche

Schwarze Tint euch ins Gesicht.«


Arias Gonzalo, der Edle,

Gab herunter von der Mauer

Ihm zur Antwort, kalt und fest:

»Ist es, was du redest, Wahrheit,

Lara, oh, so wär ich lieber

Nie geboren; doch ich nehme

Deine Fodrung an und hoffe,

Dir mit Gott es zu beweisen,

Daß du, ein Verleumder, lügst!«
[262]

Damit stieg er von der Mauer,

Und versammlend alle edlen

Zamoraner, sprach er so:

»Tapfre Krieger, Zamoraner,

Die das ganze Weltall ehrt,

Findet unter euch sich einer

In den Schandverrat verflochten,

Nenn er sich und tret hervor!

Lieber will in meinem Alter

Ich auf fremder Erde sterben,

Tief versteckt in Dunkelheit,

Als um niederträchtgen Mordes

Willen auf geschloßnem Felde

Überwinder sein im Kampf.«


»Feur vom Himmel falle nieder

Und verzehr uns«, riefen alle

Zamoraner, »wenn ein einzger

Von uns auf die mindste Weise

Teilhat an der Freveltat!

Fechten könnet Ihr mit gutem,

Redlichem Gewissen, Graf.«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 259-263.
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