40.

[275] Um zehn Uhr am frühen Morgen

Putzt Ximene ihre Töchter,

Doña Sol und Doña Elvira;

Schönre Kinder sah man nie.


Schmückte sie mit artgem Kopfputz

Und mit feinen Linnenkleidchen,

Übersät mit seidnen Blumen,

Die Ximene selbst gestickt.


Ließ dann ihre edlen Knappen

Anziehn ihren reichsten Anzug;

Denn die Liverei der Diener

Zeigt des Herrn Reichtum und Stand.


So geputzet schickt Ximene

Ihre Kinder der Infantin,

Die zu sehen sie begehrt.

Sie selbst ging nicht mit den Kindern;

Denn des Cids Gemahlin hält sich

Nach der Vorschrift des Gemahls.


Seinen Rang beliebt zu machen

Bei Geringeren, bei Höhern

Ihn behaupten, war sein Wort.
[275]

Auch die wildsten Herzen rühret

Schon der Anblick dieser Kinder

Und erfreut den Schauenden.

Tränen fließen der Infantin,

Wenn die Kleinen ihr zulächeln.

Man weiß nicht, ob sie sie hasse

Oder liebe. Wie im Unmut

Stößt sie sie zurück und zieht sie

Liebender zu sich heran.


Fast verschlingt sie sie mit Küssen,

Und wenn sie sie still betrachtet,

Steigen Seufzer ihr empor;

Nennt sie bald die schönsten Kinder,

Die die Erde sah, und findet

Dann in ihren Zügen etwas,

Das das Bild des Vaters stört.


Dann verändert ihren Putz sie,

Als ob er durch ihre Hände

Schöner würde; oh, wie manches

Ging im Herzen der Infantin,

Ihr selbst unbemerket, vor!


»Wem gehören diese Kinder?«

Fragt Alfonso. – »Einem Krieger,

Der verbannt ist, den die ganze

Christenheit mit Wunsch zurückruft

Und die Maurenwelt mit Wünschen

Von sich treibet. Das Gerücht geht,

Daß der Cid in allen Städten

Furcht verbreite. Seht die Kleinen,

Seht die Liebenswürdgen, Bruder!

Die sind nicht so fürchterlich.«


»Kinder«, sprach Alfonso lächelnd,

»Bittet was von mir! Was wünscht ihr?«[276]

»Euer Wohlsein, großer König,

Wünschen wir«, antworten beide.

»Hört Ihr«, sprach des Königs Schwester,

»Was sie wünschen? Ihren Vater

Bitten sie zurück.«


»Das hör ich«,

Sprach der König, »daß Uraca

Den Verbannten noch ein wenig

Lieb hat.« – »Nein, ich schwör Euch, Bruder,

Daß ich ihn von Herzen hasse.« –

»Nehmt in acht Euch«, sprach Alfonso,

»Daß Ihr nicht aus lauter Hasse

Ihn bis zur Anbetung liebt!«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 275-277.
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