19.

[227] Sehnlich wartete Ximene

In den Sälen ihres Palasts,

Sehnlich harrt' sie auf Rodrigo;

Denn die Stunde der Entbindung

Naht, die grausamsüße Stunde,

Ihres Lebens, wie sie hoffet,

Freudenreichster Augenblick.
[227]

Eines Morgens, es war Sonntag,

Meldeten sich ihr die Schmerzen,

Und es badet sich in Tränen

Ihr bescheidnes Angesicht.

Seufzend nimmt sie ihre Feder,

Manche, manche zarte Klage,

Mehr als tausend liebevolle

Bitten schreibt sie dem Gemahl,

Den sie wohl erweichen könnten,

Wenn die Ehre nicht in Felsen

Wandelte der Helden Herz.


Nochmals nimmt sie jetzt die Feder,

Und mit neuer Klag und Seufzen

Schreibt sie auch an ihren König,

An den edelsten der Welt:


»Guter, weiser, großer König,

Sieghaft und gerecht und bieder,

Eure Dienerin Ximene

Klaget vor Euch, über Euch.


Scherz nur war es, Don Fernando,

Eurer königlichen Laune,

Die mir den Gemahl einst gab;

Denn wohl wenig junge Frauen

Waren weniger vermählet,

Als ich bin – verzeiht, o König!

Und allein durch Eure Schuld.


Diesen Brief schreib ich in Burgos,

Wo mein Leben ich verwünsche

Und auch Euch viel Böses will;

Denn von den Geboten Gottes,

Welches gibt Euch Recht, o König,

Ehgenossen also lange

Sie zu trennen und so oft?
[228]

Welches gibt Euch Macht, o König,

Mir aus einem zarten Manne,

Artig, liebenswert, bezaubernd,

Aller Welt zum wüsten

Schrecken Einen Löwen zu erziehn?


Sechs Monate, Tag' und Nächte,

Haltet Ihr ihn fest im Zügel,

Und wohl einmal kaum im Jahre

Sieht er seine Gattin, mich.


Und wie kommt er? Blutgebadet

Bis zu Füßen seines Pferdes;

Wenn ich dann mit meinen Armen

Ihn umfange, schläft er ein;


Träumet wie ein Wildbeseßner

Schlachten, Kämpfe. Kaum noch taget

An dem Firmamente drunten

Der Aurora frühster Strahl,


Ohne mich nur anzuschauen,

Ob ich wache, ob ich schlafe,

Springt er auf. Mit welchen Tränen,

Großer Gott, empfing ich ihn!

Vater wollt er mir und alles,

Vater und Gemahl mir sein!

Alles fehlet der Verlassnen

Jetzo, Vater und Gemahl.


Tut Ihr dies, um ihn zu ehren,

König, des bedarf er nicht.

Längst war er der Vielberühmte;

Eh am Kinn der Bart ihm sproßte,

Waren Könige der Mauren

Fünf ihm schon Gefangene.
[229]

Königlicher Herr, den letzten

Augenblick erwart ich bald;

Bald wird er Euch Nachricht geben

Und ich fürchte fast, die Tränen,

Die dem Vater ich vergossen,

Schadeten vielleicht dem Kinde,

Das an meinem Herzen schläft.


Guter König, also schreibet

Mir in Eures Herzens Sprache:

Wollt Ihr den Gemahl mir senden?

Oder wollt Ihr, daß die Gattin

Eures ehrenvollsten Feldherrn

Ihm den Erstgebornen bringe,

Einen Waisen, vaterlos?


Nachschrift.


Und noch eins, o guter König:

Werfet meinen Brief ins Feuer,

Daß nicht Eurer Höfling einer

Ihn belache! Denkt daran!


Und auch daran, Don Fernando,

Daß statt meines Ehgemahles

Mir nur seine alte Mutter

Blieb, die mir zur Seite schläft.«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 227-230.
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