6.

[202] Mit zerrißnem Trauerschleier

Sprach Ximene jetzt zum König;

Tränen schwollen ihre Augen,

Wie war sie in Tränen schön!


Schön wie die betaute Rose

Glänzte sie in ihren Tränen;

Schöner blühten ihre Wangen,

Glühend in gerechtem Schmerz.


Ihre Worte singt der Sänger,

Doch nicht ihre Blick und Seufzer.

»König«, sprach sie, »edler König,

Schaffe mir Gerechtigkeit!
[202]

Er erstach mir meinen Vater,

Er erstach ihn, eine Schlange,

Meinen Vater, der, o König,

Denk es, dir dein Reich beschützt!


Meinen Vater, der von Helden

Stammte, die mit ihren Fahnen

Einst Pelagius, dem ersten

Christenkönig, folgeten.


Meinen Vater, der den Christen-

Glauben selbst mit Macht beschirmte,

Ihn, das Schrecken der Almanzors,

Ihn, der Ehre deines Reiches

Ersten Sproß, in deiner Krone,

Ihn, den ersten Edelstein.


Recht nur fleh ich, nicht Erbarmen;

Recht muß beistehn jedem Schwachen.

Unwert ist ein ungerechter

Fürst, daß ihm der Edle diene,

Daß die Königin ihn liebe,

Keines ihrer Küsse wert.


Und du wildes Tier, Rodrigo,

Auf, durchbohr auch diesen Busen,

Den ich hier in tiefster Trauer

Dir eröffne! Mord auch mich!


Warum nicht die Tochter töten,

Der du ihren Vater raubtest?

Warum nicht die Feindin morden,

Die dirs jetzt und ewig sein wird?

Rache fordert sie des Himmels

Und der ganzen Erde Rache

Gegen dich!« – Rodrigo schwieg.[203]


Und des Rosses Zaum ergreifend,

Kehret langsam er den Rücken

Allen Feldherrn, allen Kriegern,

Wartend, ob ihm einer folge;

Aber keiner folget' ihm.


Als Ximene dieses sahe,

Rief sie lauter noch und lauter:

»Rache, Krieger, blutge Rache!

Ich selbst bin des Rächers Preis!«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 202-204.
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