9.

[207] Auf dem Throne saß Fernando,

Seiner Untertanen Klagen

Anzuhören und zu richten,

Strafend den und jenen lohnend

Denn kein Volk tut seine Pflichten

Ohne Straf und ohne Lohn –


Als mit langer Trauerschleppe,

Von dreihundert edlen Knappen

Still begleitet, ehrerbietig

Vor den Thron Ximene trat.


Auf des Thrones tiefste Stufe

Kniete sie demütig nieder;

Tochter sie des Grafen Gormaz,

Hub sie so zu klagen an:


»Sechs Monate sind es heute,

Sechs Monate, großer König,

Seit von eines jungen Kriegers

Hand mein edler Vater fiel.


Viermal kniet ich Euch zu Füßen,

Viermal gabt Ihr, großer König,

Euer Wort mir, mir zusagend

Rächende Gerechtigkeit.


Noch ist sie mir nicht geworden;

Jung und frech und übermütig

Spottet Eurer Reichsgesetze

Don Rodrigo von Bivar.


Und Ihr schützt ihn, edler König,

Ihr! Denn wer von Euren Männern[207]

Seiner sich bemächtigt hätte,

Übel wär es ihm gelohnt.


Gute Kön'ge sind auf Erden

Gottes Bild; die ungerechten

Sind undankbar ihren treuen

Dienern, nähren Faktionen,

Haß, Verfolgung, ewge Feindschaft,

Seufzer und Verzweifelung.


Denkt daran, o großer König,

Und verzeihet einer Waise,

Der die Klag auf ihren Lippen

Schmerzlich Euch ein Vorwurf wird!«


»Was Ihr spracht, sei Euch verziehen«,

Sprach der König; »doch, Ximene,

Gnug geredet und nicht weiter!

Euch erhalt ich den Rodrigo;

Wie um seinen Tod Ihr jetzo

Werdet bald Ihr um sein Leben

Und um seine Wohlfahrt flehn.«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 207-208.
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