VI

Zur Humanität und Religion ist der Mensch gebildet

[152] Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe; denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung, als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet Um seine edelsten Pflichten zu entwickeln, dörfen wir nur seine Gestalt zeichnen.

1. Alle Triebe eines lebendigen Wesens lassen sich auf die Erhaltung sein selbst und auf eine Teilnehmung oder Mitteilung an andre zurückführen; das organische Gebäude des Menschen gibt, wenn eine höhere Leitung dazukommt, diesen Neigungen die erlesenste Ordnung. Wie die gerade Linie die festeste ist, so hat auch der Mensch zur Beschützung seiner von außen den kleinsten Umfang, von innen die vielartigste Schnellkraft. Er stehet auf der kleinsten Basis und kann also am leichtesten seine Glieder decken; der Punkt seiner Schwere fällt zwischen die lenksamsten und stärksten Hüften, die ein Erdengeschöpf hat und wo kein Tier die regsame Stärke des Menschen beweiset. Seine gedrücktere eherne[152] Brust und die Werkzeuge der Arme eben an dieser Stellung geben ihm von oben den weitesten Umkreis der Verteidigung, sein Herz zu bewahren und seine edelsten Lebensteile vom Haupt bis zu den Knien hinab zu schirmen. Es ist keine Fabel, daß Menschen mit Löwen gestritten und sie übermannt haben; der Afrikaner nimmt es mit mehr als einem auf, wenn er Behutsamkeit, List und Gewalt verbindet. Indessen ist's wahr, daß der Bau des Menschen vorzüglich auf die Verteidigung, nicht auf den Angriff gerichtet ist; in diesem muß ihm die Kunst zu Hülfe kommen, in jener aber ist er von Natur das kräftigste Geschöpf der Erde. Seine Gestalt selbst lehret ihn also Friedlichkeit, nicht räuberische Mordverwüstung: der Humanität erstes Merkmal.

2. Unter den Trieben, die sich auf andre beziehen, ist der Geschlechtstrieb der mächtigste; auch er ist beim Menschen dem Bau der Humanität zugeordnet. Was bei dem vierfüßigen Tier, selbst bei dem schamhaften Elefanten, Begattung ist, ist bei ihm, seinem Bau nach, Kuß und Umarmung. Kein Tier hat die menschliche Lippe, deren feine Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am spätesten gebildet wird: gleichsam die letzte Bezeichnung des Fingers der Liebe, daß diese Lippe sich schön und verstandreich schließen sollte. Von keinem Tier also gilt der schamhafte Ausdruck der alten Sprache, daß es sein Weib erkenne. Die alte Fabel sagt, daß beide Geschlechter einst, wie Blumen, eine Androgyne gewesen, aber geteilt worden; sie wollte mit dieser und andern sinnreichen Dichtungen als Fabel den Vorzug der menschlichen Liebe vor den Tieren verhüllet sagen. Auch daß der menschliche Trieb nicht wie bei diesen schlechthin einer Jahrszeit unterworfen ist (obwohl über die Revolutionen hiezu im menschlicher Körper noch keine tüchtige Betrachtungen angestellet worden), zeigt offenbar, daß er nicht von der Notwendigkeit, sondern vom Liebreiz abhangen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilligen Mäßigung so überlassen werden sollte wie alles, was der Mensch um[153] und an sich träget. Auch die Liebe sollte bei dem Menschen human sein; dazu bestimmte die Natur, außer seiner Gestalt, auch die spätere Entwicklung, die Dauer und das Verhältnis des Triebes in beiden Geschlechtern, ja sie brachte diesen unter das Gesetz eines gemeinschaftlichen freiwilligen Bundes und der freundschaftlichsten Mitteilung zweier Wesen, die sich durchs ganze Leben zu einem vereint fühlen.

3. Da außer der mitteilenden Liebe alle andere zärtlichen Affekten sich mit der Teilnehmung begnügen, so hat die Natur den Menschen unter allen Lebendigen zum teilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus allem geformt und jedem Reich der Schöpfung in dem Verhältnis ähnlich organisiert hat, als er mit demselben mitfühlen sollte. Sein Fiberngebäude ist so elastisch fein und zart und sein Nervengebäude so verschlungen in alle Teile seines vibrierenden Wesens, daß er, als ein Analogon der alles durchfühlenden Gottheit, sich beinah in jedes Geschöpf setzen und gerade in dem Maß mit ihm empfinden kann, als das Geschöpf es bedarf und sein Ganzes es ohne eigene Zerrüttung, ja selbst mit Gefahr derselben, leidet. Auch an einem Baum nimmt unsre Maschine teil, sofern sie ein wachsender, grünender Baum ist; und es gibt Menschen, die den Sturz oder die Verstümmelung desselben in seiner grünenden Jugendgestalt körperlich nicht ertragen. Seine verdorrete Krone tut uns leid; wir trauren um eine verwelkende liebe Blume. Auch das Krümmen des zerquetschten Wurms ist einem zarten Menschen nicht gleichgültig, und je vollkommener das Tier ist, je mehr es in seiner Organisation uns nahe kommt, desto mehr Sympathie erregt es in seinem Leiden. Es haben harte Nerven dazu gehört, ein Geschöpf lebendig zu öffnen und in seinen Zuckungen zu behorchen; nur der unersättliche Durst nach Ruhm und Wissenschaft konnte allmählich dies organische Mitgefühl betäuben. Zärtere Weiber können sogar die Zergliederung eines Toten nicht ertragen; sie empfinden Schmerz in jedem Gliede, das vor ihren Augen gewaltsam zerstört wird, besonders je zarter und edler die Teile selbst werden. Ein durchwühltes Eingeweide[154] erregt Grauen und Abscheu; ein zerschnittenes Herz, eine zerspaltne Lunge, ein zerstörtes Gehirn schneidet und sticht mit dem Messer in unsre eignen Glieder. Am Leichnam eines geliebten Toten nehmen wir noch in seinem Grabe teil; wir fühlen die kalte Höhle, die er nicht mehr fühlet, und Schauder überläuft uns, wenn wir sein Gebein nur berühren. So sympathetisch webte die allgemeine Mutter, die alles aus sich nahm und mit allem in der innigsten Sympathie mitfühlet, den menschlichen Körper. Sein vibrierendes Fibernsystem, sein teilnehmendes Nervengebäude hat des Aufrufs der Vernunft nicht nötig; es kommt ihr zuvor, ja es setzet sich ihr oft mächtig und widersinnig entgegen. Der Umgang mit Wahnsinnigen, an denen wir teilnehmen, erregt selbst Wahnsinn, und desto eher, je mehr sich der Mensch davor fürchtet.

Sonderbar ist's, daß das Gehör soviel mehr als das Gesicht beiträgt, dies Mitgefühl zu erwecken und zu verstärken. Der Seufzer eines Tiers, das ausgestoßne Geschrei seines leidenden Körpers zieht alle ihm ähnlichen herbei, die, wie oft bemerkt ist, traurig um den Winselnden stehn und ihm gern helfen möchten. Auch bei den Menschen erregt das Gemälde des Schmerzes eher Schrecken und Grausen als zärtliche Mitempfindung; sobald uns aber nur ein Ton des Leidenden ruft, so verlieren wir die Fassung und eilen zu ihm: es geht uns ein Stich durch die Seele. Ist's, weil der Ton das Gemälde des Auges zum lebendigen Wesen macht, also alle Erinnerungen eigner und fremder Gefühle zurückbringt und auf einen Punkt vereinet? Oder gibt es, wie ich glaube, noch eine tiefere organische Ursache? Gnug, die Erfahrung ist wahr, und sie zeigt beim Menschen den Grund seines größern Mitgefühls durch Stimme und Sprache. An dem, was nicht seufzen kann, nehmen wir weniger teil, weil es ein lungenloses, ein unvollkommeneres Geschöpf ist, uns minder gleich organisieret. Einige Taub- und Stummgeborne haben entsetzliche Beispiele vom Mangel des Mitgefühls und der Teilnehmung an Menschen und Tieren gegeben, und wir werden bei wilden Völkerschaften noch Proben gnug davon bemerken. Indessen auch[155] bei ihnen noch ist das Gesetz der Natur unverkennbar. Die Väter, die, von Not und Hunger gezwungen, ihre Kinder dem Tode opfern, weihen sie in Mutterleibe demselben, ehe sie ihr Auge gesehn, ehe sie ihre Stimme gehört haben, und manche Kindermörderin bekannte, daß ihr nichts so schwer geworden und so lang im Gedächtnis geblieben sei als der erste weinende Laut, die flehende Stimme des Kindes.

4. Schön ist die Kette, an der die allfühlende Mutter die Mitempfindungen ihrer Kinder hält und sie von Gliede zu Gliede hinaufbildet. Wo das Geschöpf noch stumpf und roh ist, kaum für sich zu sorgen, da ward ihm auch die Sorge für seine Kinder nicht anvertrauet. Die Vögel brüten und erziehn ihre Jungen mit Mutterliebe; der sinnlose Strauß dagegen gibt seine Eier dem Sande. »Er vergisset«, sagt jenes alte Buch von ihm, »daß eine Klaue sie zertrete oder ein wildes Tier sie verderbe; denn Gott hat ihm die Weisheit genommen und hat ihm keinen Verstand mitgeteilet.« Durch eine und dieselbe organische Ursache, dadurch das Geschöpf mehr Gehirn empfängt, empfängt es auch mehr Wärme, gebiert Lebendige oder brütet sie aus, säugt und bekommt mütterliche Liebe. Das lebendiggeborne Geschöpf ist gleichsam ein Knäuel der Nerven des mütterlichen Wesens; das selbstgesäugte Kind ist eine Sprosse der Mutterpflanze, die sie als einen Teil von sich nähret. – Auf dies innigste Mitgefühl sind in der Haushaltung des Tiers alle die zarten Triebe gebauet, dazu die Natur sein Geschlecht veredeln konnte.

Bei dem Menschen ist die Mutterliebe höherer Art: eine Sprosse der Humanität seiner aufgerichteten Bildung. Unter dem Auge der Mutter liegt der Säugling auf ihrem Schoß und trinkt die zarteste und feinste Speise; eine tierische und selbst den Körper verunstaltende Art ist's, wenn Völker, von Not gezwungen, ihre Kinder auf dem Rücken säugen. Den größten Unmenschen zähmt die väterliche und häusliche Liebe; denn auch eine Löwenmutter ist gegen ihre Jungen freundlich. Im väterlichen Hause entstand die erste Gesellschaft,[156] durch Bande des Bluts, des Zutrauens und der Liebe verbunden. Also auch um die Wildheit der Menschen zu brechen und sie zum häuslichen Umgange zu gewöhnen, sollte die Kindheit unsres Geschlechts lange Jahre dauren; die Natur zwang und hielt es durch zarte Bande zusammen, daß es sich nicht, wie die bald ausgebildeten Tiere, zerstreuen und vergessen konnte. Nun ward der Vater der Erzieher seines Sohns, wie die Mutter seine Säugerin gewesen war, und so ward ein neues Glied der Humanität geknüpfet. Hier lag nämlich der Grund zu einer notwendigen menschlichen Gesellschaft, ohne die kein Mensch aufwachsen, keine Mehrheit von Menschen sein könnte. Der Mensch ist also zur Gesellschaft geboren, das sagt ihm das Mitgefühl seiner Eltern, das sagen ihm die Jahre seiner langen Kindheit.

5. Da aber das bloße Mitgefühl des Menschen sich nicht über alles verbreiten und bei ihm als einem eingeschränkten, vielorganisierten Wesen in allem, was fern von ihm lag, nur ein dunkler, oft unkräftiger Führer sein konnte, so hatte die richtig leitende Mutter seine vielfachen und leise verwebten Aste unter eine untrüglichere Richtschnur zusammengeordnet; dies ist die Regel der Gerechtigkeit und Wahrheit. Aufrichtig ist der Mensch geschaffen, und wie in seiner Gestalt alles dem Haupt dienet, wie seine zwei Augen nur eine Sache sehen, seine zwei Ohren nur einen Schall hören, wie die Natur im ganzen Äußern der Bekleidung überall Symmetrie mit Einheit verband und die Einheit in die Mitte setzte, daß das Zwiefache allenthalben nur auf sie weise, so wurde auch im Innern das große Gesetz der Billigkeit und des Gleichgewichts des Menschen Richtschnur: »Was du willst, daß andre dir nicht tun sollen, tue ihnen auch nicht; was jene dir tun sollen, tue du auch ihnen!« Diese unwidersprechliche Regel ist auch in die Brust des Unmenschen geschrieben; denn wenn er andre frißt, erwartet er nichts, als von ihnen gefressen zu werden. Es ist die Regel des Wahren und Falschen, des idem und idem, auf den Bau aller seiner Sinne, ja, ich möchte[157] sagen, auf die aufrechte Gestalt des Menschen selbst gegründet Sähen wir schief oder fiele das Licht also, so hätten wir von keiner geraden Linie Begriff. Wäre unsre Organisation ohne Einheit, unsre Gedanken ohne Besonnenheit, so schweiften wir auch in unsern Handlungen in regellosen Krümmen einher, und das menschliche Leben hätte weder Vernunft noch Zweck. Das Gesetz der Billigkeit und Wahrheit macht treue Gesellen und Brüder, ja, wenn es Platz gewinnt, macht es aus Feinden selbst Freunde. Den ich an meine Brust drücke, drückt auch mich an seine Brust; für den ich mein Leben aufopfere, der opfert es auch für mich auf. Gleichförmigkeit der Gesinnungen also, Einheit des Zwecks bei verschiedenen Menschen, gleichförmige Treue bei einem Bunde hat alles Menschen-, Völker- und Tierrecht gestiftet; denn auch Tiere, die in Gesellschaft leben, befolgen der Billigkeit Gesetz, und Menschen, die durch List oder Stärke davon weichen, sind die inhumansten Geschöpfe, wenn es auch Könige und Monarchen der Welt wären. Ohne strenge Billigkeit und Wahrheit ist keine Vernunft, keine Humanität denkbar.

6. Die aufrechte und schöne Gestalt des Menschen bildete denselben zur Wohlanständigkeit; denn diese ist der Wahrheit und Billigkeit schöne Dienerin und Freundin. Wohlanständigkeit des Körpers ist, daß er stehe, wie er soll, wie ihn Gott gemacht hat; wahre Schönheit ist nichts als die angenehme Form der innern Vollkommenheit und Gesundheit. Man denke sich das Gottesgebilde des Menschen durch Nachlässigkeit und falsche Kunst verunziert: das schöne Haar ausgerissen oder in Klumpen verwandelt, Nase und Ohr durchbohrt und herabgezwungen, den Hals und die übrigen Teile des Körpers an sich selbst oder durch Kleider verderbet; man denke sich dies, und wer wird, selbst wenn die eigensinnigste Mode Gebieterin wäre, hier noch Wohlanständigkeit des geraden und schönen menschlichen Körpers finden? Mit Sitten und Gebärden ist es nicht anders, nicht anders mit Gebräuchen, Künsten und der menschlichen Sprache. Durch alle diese Stücke gehet also ein und dieselbe Humanität durch, die[158] wenige Völker auf der Erde getroffen und hundert durch Barbarei und falsche Künste verunziert haben. Dieser Humanität nachzuforschen ist die echte menschliche Philosophie, die jener Weise vom Himmel rief und die sich im Umgange wie in der Politik, in Wissenschaften wie in allen Künsten offenbaret.

Endlich ist die Religion die höchste Humanität des Menschen, und man verwundre sich nicht, daß ich sie hieher rechne. Wenn des Menschen vorzüglichste Gabe Verstand ist, so ist's das Geschäft des Verstandes, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung aufzuspähen und denselben, wo er ihn nicht gewahr wird, zu ahnen. Der menschliche Verstand tut dieses in allen Sachen, Hantierungen und Künsten; denn auch wo er einer angenommenen Fertigkeit folget, mußte ein früherer Verstand den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung festgesetzt und also diese Kunst eingeführt haben. Nun sehen wir in den Werken der Natur eigentlich keine Ursache im Innersten ein; wir kennen uns selbst nicht und wissen nicht, wie irgend etwas in uns wirket. Also ist auch bei allen Wirkungen außer uns alles nur Traum, nur Vermutung und Name; indessen ein wahrer Traum, sobald wir oft und beständig einerlei Wirkungen mit einerlei Ursachen verknüpft sehen. Dies ist der Gang der Philosophie, und die erste und letzte Philosophie ist immer Religion gewesen. Auch die wildesten Völker haben sich darin geübt, denn kein Volk der Erde ist völlig ohne sie, sowenig als ohne menschliche Vernunftfähigkeit und Gestalt, ohne Sprache und Ehe, ohne einige menschliche Sitten und Gebräuche gefunden worden. Sie glaubten, wo sie keinen sichtbaren Urheber sahen, an unsichtbare Urheber und forschten also immer doch, so dunkel es war, Ursachen der Dinge nach. Freilich hielten sie sich mehr an die Begebenheiten als an die Wesen der Natur, mehr an ihre fürchterliche und vorübergehende als an die erfreuende und daurende Seite; auch kamen sie selten so weit, alle Ursachen unter eine zu ordnen. Indessen war auch dieser erste Versuch Religion, und es heißt[159] nichts gesagt, daß Furcht bei den meisten ihre Götter erfunden. Die Furcht als solche erfindet nichts; sie weckt bloß den Verstand, zu mutmaßen und wahr oder falsch zu ahnen. Sobald der Mensch also seinen Verstand in der leichtesten Anregung brauchen lernte, d.i. sobald er die Welt anders als ein Tier ansah, mußte er unsichtbare mächtigere Wesen vermuten, die ihm helfen oder ihm schaden. Diese suchte er sich zu Freunden zu machen oder zu erhalten, und so ward die Religion, wahr oder falsch, recht oder irre geführt, die Belehrerin der Menschen, die ratgebende Trösterin ihres so dunkeln, so gefahr- und labyrinthvollen Lebens.

Nein, du hast dich deinen Geschöpfen nicht unbezeugt gelassen, du ewige Quelle alles Lebens, aller Wesen und Formen! Das gebückte Tier empfindet dunkel deine Macht und Güte, indem es seiner Organisation nach Kräfte und Neigungen übt; ihm ist der Mensch die sichtbare Gottheit der Erde. Aber den Menschen erhobst du, daß er, selbst ohne daß er's weiß und will, Ursachen der Dinge nachspähe, ihren Zusammenhang errate und dich also finde, du großer Zusammenhang aller Dinge, Wesen der Wesen! Das Innere deiner Natur erkennet er nicht, da er keine Kraft eines Dinges von innen einsieht. Ja wenn er dich gestalten wollte, hat er geirret und muß irren; denn du bist gestaltlos, obwohl die erste, einzige Ursache aller Gestalten. Indessen ist auch jeder falsche Schimmer von dir dennoch Licht und jeder trügliche Altar, den er dir baute, ein untrügliches Denkmal nicht nur deines Daseins, sondern auch der Macht des Menschen, dich zu erkennen und anzubeten. Religion ist also, auch schon als Verstandesübung betrachtet, die höchste Humanität, die erhabenste Blüte der menschlichen Seele.

Aber sie ist mehr als dies. eine Übung des menschlichen Herzens und die reinste Richtung seiner Fähigkeiten und Kräfte. Wenn der Mensch zur Freiheit erschaffen ist und auf der Erde kein Gesetz hat, als das er sich selbst auflegt, so muß er das verwildertste Geschöpf werden, wenn er nicht bald das Gesetz Gottes in der Natur erkennet und der Vollkommenheit[160] des Vaters als Kind nachstrebet. Tiere sind geborne Knechte im großen Hause der irdischen Haushaltung; sklavische Furcht vor Gesetzen und Strafen ist auch das gewisseste Merkmal tierischer Menschen. Der wahre Mensch ist frei und gehorcht aus Güte und Liebe; denn alle Gesetze der Natur, wo er sie einsiehet, sind gut, und wo er sie nicht einsiehet, lernt er ihnen mit kindlicher Einfalt folgen. »Gehest du nicht willig«, sagten die Weisen, »so mußt du gehen; die Regel der Natur ändert sich deinetwegen nicht; je mehr du aber die Vollkommenheit, Güte und Schönheit derselben erkennest, desto mehr wird auch diese lebendige Form dich zum Nachbilde der Gottheit in deinem irdischen Leben bilden.« Wahre Religion also ist ein kindlicher Gottesdienst eine Nachahmung des Höchsten und Schönsten im menschlichen Bilde, mithin die innigste Zufriedenheit, die wirksamste Güte und Menschenliebe.

Und so siehet man auch, warum in allen Religionen der Erde mehr oder minder Menschenähnlichkeit Gottes habe stattfinden müssen, entweder daß man den Menschen zu Gott erhob oder den Vater der Welt zum Menschengebilde hinabzog. Eine höhere Gestalt als die unsre kennen wir nicht, und was den Menschen rühren und menschlich machen soll, muß menschlich gedacht und empfunden sein. Eine sinnliche Nation veredelte also die Menschengestalt zur göttlichen Schönheit; andre, die geistiger dachten, brachten Vollkommenheiten des Unsichtbaren in Symbole fürs menschliche Auge. Selbst da die Gottheit sich uns offenbaren wollte, sprach und handelte sie unter uns, jedem Zeitraum angemessen, menschlich. Nichts hat unsre Gestalt und Natur so sehr veredelt als die Religion; bloß und allein, weil sie sie auf ihre reinste Bestimmung zurückführte.

Daß mit der Religion also auch Hoffnung und Glaube der Unsterblichkeit verbunden war und durch sie unter den Menschen gegründet wurde, ist abermals Natur der Sache, vom Begriff Gottes und der Menschheit beinah unzertrennlich. Wie? wir sind Kinder des Ewigen, den wir hier nachahmend[161] erkennen und lieben lernen sollen, zu dessen Erkenntnis wir durch alles erweckt, zu dessen Nachahmung wir durch Liebe und Leid gezwungen werden, und wir erkennen ihn noch so dunkel; wir ahmen ihm so schwach und kindisch nach, ja, wir sehen die Gründe, warum wir ihn in dieser Organisation nicht anders erkennen und nachahmen können. Und es sollte für uns keine andre möglich, für unsre gewisseste, beste Anlage sollte kein Fortgang wirklich sein? Denn eben diese unsre edelsten Kräfte sind sowenig für diese Welt: sie streben über dieselbe hinüber, weil hier alles der Notdurft dienet. Und doch fühlen wir unsern edlern Teil beständig im Kampf mit dieser Notdurft: gerade das, was der Zweck der Organisation im Menschen scheinet, findet auf der Erde zwar seine Geburts-, aber nichts weniger als seine Vollendungsstätte. Riß also die Gottheit den Faden ab und brachte mit allen Zubereitungen aufs Menschengebilde endlich ein unreifes Geschöpf zustande, das mit seiner ganzen Bestimmung getäuscht ward? Alles auf der Erde ist Stückwerk, und soll es ewig und ewig ein unvollkommenes Stückwerk, so wie das Menschengeschlecht eine bloße Schattenherde, die sich mit Träumen jagt, bleiben? Hier knüpfte die Religion alle Mängel und Hoffnungen unsres Geschlechts zum Glauben zusammen und wand der Humanität eine unsterbliche Krone.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 152-162.
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