II

Die Einbildungskraft der Menschen ist allenthalben organisch und klimatisch; allenthalben aber wird sie von der Tradition geleitet

[290] Von einer Sache, die außer dem Kreise unsrer Empfindung liegt, haben wir keinen Begriff; die Geschichte jenes Siamer-Königes, der Eis und Schnee für Undinge ansah, ist in tausend Fällen unsre eigne Geschichte. Jedes eingeborne sinnliche Volk hat sich also mit seinen Begriffen auch in seine Gegend umschränkt; wenn es tut, als ob es Worte verstehe,[290] die ihm von ganz fremden Dingen gesagt werden, so hat man lange Zeit Ursache, an diesem innern Verständnis zu zweifeln.

»Die Grönländer haben es gern«, sagt der ehrliche Cranz140, »wenn man ihnen etwas von Europa erzählet; sie könnten aber davon nichts begreifen, wenn man es ihnen nicht gleichnisweise deutlich machte. Die Stadt oder das Land z. E. hat so viel Einwohner, daß viele Walfische auf einen Tag kaum zur Nahrung hinreichen würden; man ißt aber keine Walfische, sondern Brot, das wie Gras aus der Erde wächst, auch das Fleisch der Tiere, die Hörner haben, und läßt sich durch große, starke Tiere auf ihrem Rücken tragen oder auf einem hölzernen Gestell ziehen. Da nennen sie denn das Brot Gras, die Ochsen Renntiere und die Pferde große Hunde, bewundern alles und bezeigen Lust, in einem so schönen, fruchtbaren Lande zu wohnen, bis sie hören, daß es da oft donnert und keine Seehunde gibt. – Sie hören auch gern von Gott und göttlichen Dingen, solange man ihnen ihre abergläubischen Fabeln auch gelten läßt.« Wir wollen nach ebendiesem Cranz141 einen kleinen Katechismus ihrer theologischen Naturlehre machen, wie sie auch bei europäischen Fragen nicht anders als in ihrem Gesichtskreise antworten und denken.

Frage: Wer hat wohl Himmel und Erde und alles, was ihr seht, geschaffen?

Antwort: Das wissen wir nicht. Den Mann kennen wir nicht. Es muß ein sehr mächtiger Mann sein. Oder es ist wohl immer so gewesen und wird so bleiben.

Frage: Habet ihr auch eine Seele?

Antwort: O ja. Sie kann ab- und zunehmen; unsre Angekoks können sie flicken und reparieren; wenn man sie verloren hat, bringen sie sie wieder, und eine kranke können sie mit einer frischen gesunden Seele von einem Hasen, Renntier, Vogel oder jungen Kinde verwechseln Wenn wir auf[291] eine weite Reise gegangen sind, so ist oft unsre Seele zu Hause In der Nacht im Schlaf wandert sie aus dem Leibe; sie geht auf die Jagd, zum Tanz, zum Besuch, und der Leib liegt gesund da. –

Frage: Wo bleibt sie denn im Tode?

Antwort: Da geht sie an den glückseligen Ort in der Tiefe des Meers. Daselbst wohnet Torngarsuk und seine Mutter; da ist ein beständiger Sommer, schöner Sonnenschein und keine Nacht. Auch gutes Wasser ist da und ein Überfluß an Vögeln, Fischen, Seehunden und Renntieren, die man alle ohne Mühe fangen kann oder die man gar schon in einem großen Kessel kochend findet.

Frage: Und kommen alle Menschen dahin?

Antwort: Dahin kommen nur die guten Leute, die zur Arbeit getaugt, die große Taten getan, viel Walfische und Seehunde gefangen, viel ausgestanden haben oder gar im Meer ertrunken, über der Geburt gestorben sind u. f.

Frage: Wie kommen diese dahin?

Antwort: Nicht leicht. Man muß fünf Tage lang oder länger an einem rauhen Felsen, der schon ganz blutig ist, herunterklettern.

Frage: Sehet ihr aber nicht jene schönen himmlischen Körper? Sollte der Ort unsrer Zukunft nicht vielmehr dort sein?

Antwort: Auch dort ist er, im obersten Himmel, hoch über dem Regenbogen, und die Fahrt dahin ist so leicht und hurtig, daß die Seele noch selbigen Abend bei dem Mond, der ein Grönländer gewesen, in seinem Hause ausruhen und mit den übrigen Seelen Ball spielen und tanzen kann. Dieser Tanz, dieses Ballspiel der Seelen ist jenes Nordlicht.

Frage: Und was tun sie sonst oben?

Antwort: Sie wohnen in Zelten um einen großen See, in welchem Fische und Vögel die Menge sind. Wenn dieser See überfließt, so regnet's auf der Erde; sollten einmal seine Dämme durchbrechen, so gäbe es eine allgemeine Sündflut. – Überhaupt aber kommen nur die Untauglichen, Faulen in den Himmel; die Fleißigen gehen zum Grunde der See. Jene[292] Seelen müssen oft hungern, sind mager und kraftlos, können auch wegen der schnellen Umdrehung des Himmels gar keine Ruhe haben. Böse Leute und Hexen kommen dahin; sie werden von Raben geplagt, die sie nicht von den Haaren abhalten können u. f.

Frage: Wie glaubet ihr, daß das menschliche Geschlecht entstanden sei?

Antwort: Der erste Mensch, Kallak, kam aus der Erde und bald hernach die Frau aus seinem Daumen. Einmal gebar eine Grönländerin, und sie gebar Kablunät, d.i. die Ausländer und Hunde; daher sind jene wie diese geil und fruchtbar.

Frage: Und wird die Welt ewig dauern?

Antwort: Einmal ist sie schon umgeküppt, und alle Menschen sind ertrunken. Der einige Mann, der sich rettete, schlug mit dem Stock auf die Erde; da kam ein Weib hervor, und beide bevölkerten die Erde wieder. Jetzt ruht sie noch auf ihren Stützen, die aber schon vor Alter so morsch sind, daß sie oft krachen; daher sie längst eingefallen wäre, wenn unsre Angekoks nicht immer daran flickten.

Frage: Was haltet ihr aber von jenen schönen Sternen?

Antwort: Sie sind alle ehedem Grönländer oder Tiere gewesen, die durch besondre Zufälle dahin aufgefahren sind und nach Verschiedenheit ihrer Speise blaß oder rot glänzen. Jene, die sich begegnen, sind zwei Weiber, die einander besuchen, dieser schießende Stern ist eine zum Besuch reisende Seele. Dies große Gestirn (der Bär) ist ein Renntier; jene Siebensterne sind Hunde, die einen Bären hetzen; jene (Orions Gürtel) sind Verwilderte, die vom Seehundfange nicht nach Hause finden konnten und unter die Sterne kamen. Mond und Sonne sind zwei leibliche Geschwister. Malina, die Schwester, wurde von ihrem Bruder im Finstern verfolgt; sie wollte sich mit der Flucht retten, fuhr in die Höhe und ward zur Sonne. Anninga fuhr ihr nach und ward zum Monde; noch immer läuft der Mond um die jungfräuliche Sonne umher, in Hoffnung, sie zu haschen, aber vergebens. Müde und abgezehrt (beim letzten Vierteil) fährt er auf den[293] Seehundfang, bleibt einige Tage aus und kommt so fett wieder, wie wir ihn im Vollmond sehen. Er freut sich, wenn Weiber sterben, und die Sonne hat ihre Lust an der Männer Tode. –

Niemand würde mir's danken, wenn ich fortführe, die Phantasien mehrerer Völker also zu zeichnen. Fände sich jemand, der dies Reich der Einbildungen, den wahren Limbus der Eitelkeit, der unsre Erde umgibt, zu durchreisen Lust hätte, so wünschte ich ihm den ruhigen Bemerkungsgeist, der zuerst frei von allen Hypothesen der Übereinstimmung und Abstammung, allenthalben nur wie auf seinem Ort wäre und auch jede Torheit seiner Mitbrüder lehrreich zu machen wüßte. Was ich auszuzeichnen habe, sind einige allgemeine Wahrnehmungen aus diesem lebendigen Schattenreich phantasierender Völker.

1. Überall charakterisieren sich in ihm Klimate und Nationen. Man halte die grönländische mit der indischen, die lappländische mit der japanischen, die peruanische mit der Negermythologie zusammen: eine völlige Geographie der dichtenden Seele. Der Brahmine würde sich kaum ein Bild denken können, wenn man ihm die Voluspa der Isländer vorläse und erklärte; der Isländer fände beim Wedam sich ebenso fremde. Jeder Nation ist ihre Vorstellungsart um so tiefer eingeprägt, weil sie ihr eigen, mit ihrem Himmel und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entsprossen, von Vätern und Urvätern auf sie vererbt ist. Wobei ein Fremder am meisten staunt, glauben sie am deutlichsten zu begreifen; wobei er lacht, sind sie höchst ernsthaft. Die Indier sagen, daß das Schicksal des Menschen in sein Gehirn geschrieben sei, dessen feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch des Verhängnisses darstellten; oft sind die willkürlichsten Nationalbegriffe und Meinungen solche Hirngemälde, eingewebte Züge der Phantasie vom festesten Zusammenhange mit Leib und Seele.

2. Woher dieses? Hat jeder einzelne dieser Menschenherden[294] sich seine Mythologie erfunden, daß er sie etwa wie sein Eigentum liebe? Mitnichten. Er hat nichts in ihr erfunden: er hat sie geerbt. Hätte er sie durch eignes Nachdenken zuwege gebracht, so könnte er auch durch eignes Nachdenken vom Schlechtern zum Bessern geführt werden; das ist aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofer142 es einer ganzen Schar tapfrer und kluger Abiponer vorstellte, wie lächerlich sie sich vor den Drohungen eines Zauberers, der sich in einen Tiger verwandeln wollte und dessen Klauen sie schon an sich zu fühlen meinten, entsetzten: »Ihr erlegt«, sprach er zu ihnen, »täglich im Felde wahre Tiger, ohne euch darüber zu entsetzen; warum erblasset ihr so feige über einen eingebildeten, der nicht da ist?« – »Ihr Väter«, sprach ein tapfrer Abipone, »habt von unsern Sachen noch keine echten Begriffe. Die Tiger auf dem Felde fürchten wir nicht, weil wir sie sehen; da erlegen wir sie ohne Mühe. Die künstlichen Tiger aber setzen uns in Angst, eben weil wir sie nicht sehen und also auch nicht zu töten vermögen.« Mich dünkt, hier liegt der Knoten. Wären uns alle Begriffe so klar wie Begriffe des Auges; hätten wir keine andern Einbildungen, als die wir von Gegenständen des Gesichts abgezogen hätten und mit ihnen vergleichen könnten: so wäre die Quelle des Betruges und Irrtums, wo nicht verstopft, so doch wenigstens bald erkennbar. Nun aber sind die meisten Phantasien der Völker Töchter des Ohrs und der Erzählung. Neugierig horchte das unwissende Kind den Sagen, die, wie Milch der Mutter, wie ein festlicher Wein des väterlichen Geschlechts, in seine Seele flossen und sie nährten. Sie schienen ihm, was es sah, zu erklären: dem Jünglinge gaben sie Bericht von der Lebensart seines Stammes und von seiner Väter Ehre; sie weiheten den Mann national und klimatisch in seinen Beruf ein, und so wurden sie auch untrennbar von seinem ganzen Leben. Der Grönländer und Tunguse sieht lebenslang nun wirklich, was er in seiner Kindheit eigentlich nur reden hörte, und so glaubt er's als eine gesehene Wahrheit. Daher die schreckhaften[295] Gebräuche so vieler der entferntesten Völker bei Mond- und Sonnenfinsternissen; daher ihr fürchterlicher Glaube an die Geister der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo irgend Bewegung in der Natur ist, wo eine Sache zu leben scheint und sich verändert, ohne daß das Auge die Gesetze der Veränderung wahrnimmt, da höret das Ohr Stimmen und Rede, die ihm das Rätsel des Gesehenen durchs Nichtgesehene erklären; die Einbildungskraft wird gespannt und auf ihre Weise, d.i. durch Einbildungen, befriedigt. Überhaupt ist das Ohr der furchtsamste, der scheueste aller Sinne; es empfindet lebhaft, aber nur dunkel; es kann nicht zusammenhalten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn seine Gegenstände gehn im betäubenden Strom vorüber. Bestimmt, die Seele zu wecken, kann es ohne Beihülfe der andern Sinne, insonderheit des Auges, sie selten bis zur deutlichen Gnugtuung belehren.

3. Man siehet daher, bei welchen Völkern die Einbildungskraft am stärksten gespannt sein müsse. Bei solchen nämlich, die die Einsamkeit lieben, die wilde Gegenden der Natur, die Wüste, ein felsichtes Land, die sturmreiche Küste des Meers, den Fuß feuerspeiender Berge oder andre wunder- und bewegungvolle Erdstriche bewohnen. Von den ältesten Zeiten an ist die Arabische Wüste eine Mutter hoher Einbildungen gewesen, und die solchen nachhingen, waren meistenteils einsame, staunende Menschen. In der Einsamkeit empfing Mahomed seinen Koran; seine erregte Phantasie verzückte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel, Seligen und Welten; nie ist seine Seele entflammter, als wenn sie den Blitz der einsamen Nacht, den Tag der großen Wiedervergeltung und andre unermeßliche Gegenstände malet. Wo und wie weit hat sich nicht der Aberglaube der Schamanen verbreitet? Von Grönland und dem dreifachen Lappland an über die ganze nächtliche Küste des Eismeers tief in die Tatarei hinab, nach Amerika hin und fast durch diesen ganzen Weltteil. Überall erscheinen Zauberer, und allenthalben sind Schreckbilder der Natur die Welt, in der sie leben. Mehr als drei Vierteile der[296] Erde sind also dieses Glaubens; denn auch in Europa hangen die meisten Nationen finnischen und slawischen Ursprunges noch an den Zaubereien des Naturdienstes, und der Aberglaube der Neger ist nichts als ein nach ihrem Genius und Klima gestalteter Schamanismus. In den Ländern der asiatischen Kultur ist dieser zwar von positiven künstlichern Religionen und Staatseinrichtungen verdrängt worden; er läßt sich aber blicken, wo er sich blicken lassen darf, in der Einsamkeit und beim Pöbel, bis er auf einigen Inseln des Südmeers wieder in großer Macht herrschet. Der Dienst der Natur hat also die Erde umzogen, und die Phantasien desselben halten sich an jeden klimatischen Gegenstand der Übermacht und des Schreckens, an den die menschliche Notdurft grenzet. In ältern Zeiten war er der Gottesdienst beinah aller Völker der Erde.

4. Daß die Lebensart und der Genius jedes Volks hiebei mächtig einwirke, bedarf fast keiner Erwähnung. Der Schäfer siehet die Natur mit andern Augen an als der Fischer und Jäger, und in jedem Erdstrich sind auch diese Gewerbe wiederum, wie die Charaktere der Nationen, verschieden. Mich wunderte, z.B. in der Mythologie der so nördlichen Kamtschadalen eine freche Lüsternheit zu bemerken, die man eher bei einer südlichen Nation suchen sollte; ihr Klima indessen und ihr genetischer Charakter geben auch über diese Anomalie Aufschluß.143 Ihr kaltes Land hat feuerspeiende Berge und heiße Quellen: starrende Kälte und kochende Glut sind im Streit daselbst; ihre lüsterne Sitten wie ihre grobe mythologische Possen sind ein natürliches Produkt von beiden. Ein gleiches ist's mit jenen Märchen der schwatzhaften, brausenden Neger, die weder Anfang noch Ende haben144; ein gleiches mit der zusammengedrückten, festen Mythologie der Nordamerikaner145,[297] ein gleiches mit der Blumenphantasie der Indier146, die, wie sie selbst, die wohllüstige Ruhe des Paradieses hauchet. Ihre Götter baden in Milch- und Zuckerseen; ihre Göttinnen wohnen auf kühlenden Teichen im Kelch süßduftender Blumen. Kurz, die Mythologie jedes Volks ist ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur ansah, insonderheit ob es, seinem Klima und Genius nach, mehr Gutes oder Übel in derselben fand und wie es sich etwa das eine durch das andre zu erklären suchte. Auch in den wildesten Strichen also und in den mißratensten Zügen ist sie ein philosophischer Versuch der menschlichen Seele, die, ehe sie auf wacht, träumt und gern in ihrer Kindheit bleibet.

5. Gewöhnlich siehet man die Angekoks, die Zauberer, Magier, Schamanen und Priester als die Urheber dieser Verblendungen des Volks an und glaubt, alles erklärt zu haben, wenn man sie Betrüger nennet. An den meisten Orten sind sie es freilich; nie aber vergesse man, daß sie selbst Volk sind und also auch Betrogene älterer Sagen waren. In der Masse der Einbildungen ihres Stammes wurden sie erzeugt und erzogen; ihre Weihung geschah durch Fasten, Einsamkeit, Anstrengung der Phantasie, durch Abmattung des Leibes und[298] der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm sein Geist erschien, und also in seiner Seele zuerst das Werk vollendet war, das er nachher lebenslang mit wiederholter ähnlicher Anstrengung der Gedanken und Abmattung des Leibes für andre treibet. Die kältesten Reisenden mußten bei manchen Gaukelspielen dieser Art erstaunen, weil sie Erfolge der Einbildungskraft sahen, die sie kaum möglich geglaubt hatten und sich oft nicht zu erklären wußten. Überhaupt ist die Phantasie noch die unerforschteste und vielleicht die unerforschlichste aller menschlichen Seelenkräfte; denn da sie mit dem ganzen Bau des Körpers, insonderheit mit dem Gehirn und den Nerven, zusammenhangt, wie soviel wunderbare Krankheiten zeigen, so scheint sie nicht nur das Band und die Grundlage aller feinern Seelenkräfte, sondern auch der Knote des Zusammenhanges zwischen Geist und Körper zu sein, gleichsam die sprossende Blüte der ganzen sinnlichen Organisation zum weitern Gebrauch der denkenden Kräfte. Notwendig ist sie also auch das erste, was von Eltern auf Kinder übergeht, wie dies abermals viele widernatürliche Beispiele samt der unanstreitbaren Ähnlichkeit des äußern und innern Organismus auch in den zufälligsten Dingen bewähret. Man hat lange gestritten, ob es angeborne Ideen gebe, und wie man das Wort verstand, finden sie freilich nicht statt; nimmt man es aber für die nächste Anlage zum Empfängnis, zur Verbindung, zur Ausbreitung gewisser Ideen und Bilder, so scheinet ihnen nicht nur nichts entgegen, sondern auch alles für sie. Kann ein Sohn sechs Finger, konnte die Familie des Porcupine-man in England seinen unmenschlichen Auswuchs erben, geht die äußere Bildung des Kopfs und Angesichts oft augenscheinlich über: wie könnte es ohne Wunder geschehen, daß nicht auch die Bildung des Gehirns überginge und sich vielleicht in ihren feinsten organischen Faltungen vererbte? Unter manchen Nationen herrschen Krankheiten der Phantasie, von denen wir keinen Begriff haben; alle Mitbrüder des Kranken schonen sein Übel, weil sie die genetische[299] Disposition dazu in sich fühlen. Unter den tapfern und gesunden Abiponern z.B. herrscht ein periodischer Wahnsinn, von welchem in den Zwischenstunden der Wütende nichts weiß; er ist gesund, wie er gesund war; nur seine Seele, sagen sie, ist nicht bei ihm. Unter mehrern Völkern hat man, diesem Übel Ausbruch zu geben, Traumfeste verordnet, da dem Träumenden alles, was ihm sein Geist befiehlt, zu tun erlaubt ist. Überhaupt sind bei allen phantasiereichen Völkern die Träume wunderbar mächtig; ja wahrscheinlich waren auch Träume die ersten Musen, die Mütter der eigentlichen Fiktion und Dichtkunst. Sie brachten die Menschen auf Gestalten und Dinge, die kein Auge gesehen hatte, deren Wunsch aber in der menschlichen Seele lag; denn was z.B. war natürlicher, als daß geliebte Verstorbene dem Hinterlassenen in Träumen erschienen und daß, die so lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigstens als Schatten im Traum mit uns zu leben wünschten. Die Geschichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorsehung das Organ der Einbildung, wodurch sie so stark, so rein und natürlich auf Menschen wirken konnte, gebraucht habe; abscheulich aber war's, wenn der Betrug oder der Despotismus es mißbrauchte und sich des ganzen noch ungebändigten Ozeans menschlicher Phantasien und Träume zu seiner Absicht bediente.

Großer Geist der Erde, mit welchem Blick überschauest du alle Schattengestalten und Träume, die sich auf unsrer runden Kugel jagen; denn Schatten sind wir, und unsre Phantasie dichtet nur Schattenträume. Sowenig wir in reiner Luft zu atmen vermögen, sowenig kann sich unsrer zusammengesetzten, aus Staub gebildeten Hülle jetzt noch die reine Vernunft ganz mitteilen. Indessen auch in allen Irrgängen der Einbildungskraft wird das Menschengeschlecht zu ihr erzogen; es hangt an Bildern, weil diese ihm Eindruck von Sachen geben; es sieht und suchet auch im dicksten Nebel Strahlen der Wahrheit. Glücklich und auserwählt ist der Mensch, der in seinem enge beschränkten Leben, soweit er kann, von Phantasien zum Wesen, d.i. aus der Kindheit zum Mann, erwächst[300] und auch in dieser Absicht die Geschichte seiner Brüder mit reinem Geist durchwandert. Edle Ausbreitung gibt es der Seele, wenn sie sich aus dem engen Kreise, den Klima und Erziehung um uns gezogen, herauszusetzen wagt und unter andern Nationen wenigstens lernt, was man entbehren möge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich, was man lange für wesentlich hielt! Vorstellungen, die wir oft für die allgemeinsten Grundsätze der Menschenvernunft erkannten, verschwinden dort und hier mit dem Klima eines Orts, wie dem Schiffenden das feste Land als Wolke verschwindet. Was diese Nation ihrem Gedankenkreise unentbehrlich hält, daran hat jene nie gedacht oder hält es gar für schädlich. So irren wir auf der Erde in einem Labyrinth menschlicher Phantasien umher; wo aber der Mittelpunkt des Labyrinths sei, auf den alle Irrgänge wie gebrochne Strahlen zur Sonne zurückführen, das ist die Frage.

140

Geschichte von Grönland. , S. 225.

141

Abschnitt V, VI.

142

Dobritzhofer »Gesch. der Abiponer...«, T. 1.

143

S. Steller, Krascheninikow u. f..

144

Römer, Boßman, Müller, Oldendorp u. f.

145

S. Lafiteau, Lebeau, Carver, u.a.

146

S. Baldeus, Dow, Sonnerat, Holwell, u. f.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 290-301.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Herders sämmtliche Werke: Band 13. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teile 1, 2
Werke. 10 in 11 Bänden: Band 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit, Volume 1 (German Edition)

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten

Herzog Theodor von Gothland. Eine Tragödie in fünf Akten

Den Bruderstreit der Herzöge von Gothland weiß der afrikanische Anführer der finnischen Armee intrigant auszunutzen und stürzt Gothland in ein blutrünstiges, grausam detailreich geschildertes Massaker. Grabbe besucht noch das Gymnasium als er die Arbeit an der fiktiven, historisierenden Tragödie aufnimmt. Die Uraufführung erlebt der Autor nicht, sie findet erst 65 Jahre nach seinem Tode statt.

244 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon