IV

Die Regierungen sind festgestellte Ordnungen unter den Menschen, meistens aus ererbter Tradition

[360] Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft; denn in dieser wird er geboren und erzogen, zu ihr führt ihn der aufwachende Trieb seiner schönen Jugend, und die süßesten Namen der Menschheit, Vater, Kind, Bruder, Schwester, Geliebter, Freund, Versorger, sind Bande des Naturrechts, die im Stande jeder ursprünglichen Menschengesellschaft stattfinden. Mit ihnen sind also auch die ersten Regierungen unter den Menschen gegründet: Ordnungen der Familie, ohne die unser Geschlecht nicht bestehen kann, Gesetze,[360] die die Natur gab und auch durch sich selbst gnugsam einschränkte. Wir wollen sie den ersten Grad natürlicher Regierungen nennen; sie werden immerhin auch der höchste und letzte bleiben.

Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Gesellschaft und überließ es dem Verstande oder dem Bedürfnis des Menschen, höhere Gebäude darauf zu gründen. In allen Erdstrichen, wo einzelne Stämme und Geschlechter einander weniger bedörfen, nehmen sie auch weniger teil aneinander; sie dachten also an keine großen politischen Gebäude. Dergleichen sind die Küsten der Fischer, die Weiden der Hirten, die Wälder der Jäger; wo auf ihnen das väterliche und häusliche Regiment aufhört, sind die weiteren Verbindungen der Menschen meistens nur auf Vertrag oder Auftrag gegründet. Eine Jagdnation z.B. geht auf die Jagd; bedarf sie eines Führers, so ist es ein Jagdanführer, zu dem sie den Geschicktesten wählet, dem sie also auch nur aus freier Wahl und zum gemeinschaftlichen Zweck ihres Geschäfts gehorchet. Alle Tiere, die in Herden leben, haben solche Anführer; bei Reisen, Verteidigungen, Anfällen und überhaupt bei jedem gemeinschaftlichen Geschäft einer Menge ist ein solcher König des Spiels nötig. Wir wollen diese Verfassung den zweiten Grad der natürlichen Regierung nennen: sie findet bei allen Völkern statt, die bloß ihrem Bedürfnis folgen und, wie wir's nennen, im Stande der Natur leben. Selbst die erwählten Richter eines Volks gehören zu diesem Grad der Regierung: die Klügsten und Besten nämlich werden zu ihrem Amt als zu einem Geschäft erwählt, und mit dem Geschäft ist auch ihre Herrschaft zu Ende.

Aber wie anders ist's mit dem dritten Grad, den Erbregierungen unter den Menschen! Wo hören hier die Gesetze der Natur auf, oder wo fangen sie an? Daß der billigste und klügste Mann von den Streitenden zum Richter erwählt ward, war Natur der Sache, und wenn er sich als einen solchen bewährt hatte, mochte er's bis in sein graues Alter bleiben. Nun aber stirbt der Alte, und warum ist sein Sohn Richter? Daß[361] ihn der klügste und billigste Vater erzeugt hat, ist kein Grund; denn weder Klugheit noch Billigkeit konnte er ihm einzeugen. Noch weniger wäre der Natur des Geschäfts nach die Nation verbunden, ihn deshalb als solchen anzuerkennen, weil sie seinen Vater einmal aus persönlichen Ursachen zum Richter wählte; denn der Sohn ist nicht die Person des Vaters Und wenn sie gar für alle ihre noch Ungeborne das Gesetz feststellen wollte, ihn dafür erkennen zu müssen, und im Namen der Vernunft ihrer aller auf ewige Zeiten hin den Vertrag machte, daß jeder Ungeborne dieses Stamms der geborne Richter, Führer und Hirt der Nation, d.i. der Tapferste, Billigste, Klügste des ganzen Volks, sein und dafür der Geburt wegen von jedermann erkannt werden müßte, so würde es schwer sein, einen Erbvertrag dieser Art, ich will nicht sagen mit dem Recht, sondern nur mit der Vernunft zu reimen. Die Natur teilet ihre edelsten Gaben nicht familienweise aus, und das Recht des Blutes, nach welchem ein Ungeborner über den andern Ungebornen, wenn beide einst geboren sein werden, durchs Recht der Geburt zu herrschen das Recht habe, ist für mich eine der dunkelsten Formeln der menschlichen Sprache.

Es müssen andre Gründe vorhanden sein, die die Erbregierungen unter den Menschen einführten, und die Geschichte verschweigt uns diese Gründe nicht. Wer hat Deutschland, wer hat dem kultivierten Europa seine Regierungen gegeben? Der Krieg. Horden von Barbaren überfielen den Weltteil; ihre Anführer und Edeln teilten unter sich Länder und Menschen. Daher entsprangen Fürstentümer und Lehne; daher entsprang die Leibeigenschaft unterjochter Völker; die Eroberer waren im Besitz, und was seit der Zeit in diesem Besitz verändert worden, hat abermals Revolution, Krieg, Einverständnis der Mächtigen, immer also das Recht des Stärkern entschieden. Auf diesem königlichen Wege geht die Geschichte fort, und Fakta der Geschichte sind nicht zu leugnen. Was brachte die Welt unter Rom, Griechenland und den Orient unter Alexander? Was hat alle große Monarchien bis[362] zu Sesostris und der fabelhaften Semiramis hinauf gestiftet und wieder zertrümmert? Der Krieg. Gewaltsame Eroberungen vertraten also die Stelle des Rechts, das nachher nur durch Verjährung oder, wie unsre Staatslehrer sagen, durch den schweigenden Kontrakt Recht ward; der schweigende Kontrakt aber ist in diesem Fall nichts anders, als daß der Stärkere nimmt, was er will, und der Schwächere gibt oder leidet, was er nicht ändern kann. Und so hängt das Recht der erblichen Regierung sowie beinah jedes andern erblichen Besitzes an einer Kette von Tradition, deren ersten Grenzpfahl das Glück oder die Macht einschlug und die sich hie und da mit Güte und Weisheit, meistens aber wieder nur durch Glück oder Übermacht fortzog Nachfolger und Erben bekamen, der Stammvater nahm; und daß dem, der hatte, auch immer mehr gegeben ward, damit er die Fülle habe, bedarf keiner weitern Erläuterung; es ist die natürliche Folge des genannten ersten Besitzes der Länder und Menschen.

Man glaube nicht, daß dies etwa nur von Monarchien, als von Ungeheuern der Eroberung, gelte, die ursprünglichen Reiche aber anders entstanden sein könnten; denn wie in der Welt wären sie anders entstanden? Solange ein Vater über seine Familie herrschte, war er Vater und ließ seine Söhne auch Väter werden, über die er nur durch Rat zu vermögen suchte. Solange mehrere Stämme aus freier Überlegung zu einem bestimmten Geschäft sich Richter und Führer wählten, so lange waren diese Amtsführer nur Diener des gemeinen Zweckes, bestimmte Vorsteher der Versammlung; der Name Herr, König, eigenmächtiger, willkürlicher, erblicher Despot war Völkern dieser Verfassung etwas Unerhörtes. Entschlummerte aber die Nation und ließ ihren Vater, Führer und Richter walten, gab Sie ihm endlich gar, schlaftrunken-dankbar, seiner Verdienste, seiner Macht, seines Reichtums oder welcher Ursachen wegen es sonst sei, den Erbzepter in die Hand, daß er sie und ihre Kinder wie der Hirt die Schafe weide: welch Verhältnis ließe sich hiebei denken, als Schwachheit auf der einen, Übermacht auf der andern Seite, also das[363] Recht des Stärkern. Wenn Nimrod Bestien tötet und nachher Menschen unterjocht, so ist er dort und hier ein Jäger. Der Anführer einer Kolonie oder Horde, dem Menschen wie Tiere folgten, bediente sich über sie gar bald des Menschenrechts über die Tiere. So war's mit denen, die die Nationen kultivierten: solange sie sie kultivierten, waren sie Väter, Erzieher des Volks, Handhaber der Gesetze zum gemeinen Besten; sobald sie eigenmächtige oder gar erbliche Regenten wurden, waren sie die Mächtigern, denen der Schwächere diente. Oft trat ein Fuchs in die Stelle des Löwen, und so war der Fuchs der Mächtigere; denn nicht Gewalt der Waffen allein ist Stärke; Verschlagenheit, List und ein künstlicher Betrug tut in den meisten Fällen mehr als jene. Kurz, der große Unterschied der Menschen an Geistes-, Glücks- und Körpergaben hat nach dem Unterschiede der Gegenden, Lebensarten und Lebensalter Unterjochungen und Despotien auf der Erde gestiftet, die in vielen Ländern einander leider nur abgelöset haben. Kriegerische Bergvölker z.B. überschwemmten die ruhige Ebne: jene hatte das Klima, die Not, der Mangel stark gemacht und tapfer erhalten; sie breiteten sich also als Herren der Erde aus, bis sie selbst in der mildern Gegend von Üppigkeit besiegt und von andern unterjocht wurden. So ist unsre alte Tellus bezwungen und die Geschichte auf ihr ein trauriges Gemälde von Menschenjagden und Eroberungen worden. Fast jede kleine Landesgrenze, jede neue Epoche ist mit Blut der Geopferten und mit Tränen der Unterdrückten ins Buch der Zeiten verzeichnet. Die berühmtesten Namen der Welt sind Würger des Menschengeschlechts, gekrönte oder nach Kronen ringende Henker gewesen, und was noch trauriger ist, so standen oft die edelsten Menschen notgedrungen auf diesem schwarzen Schaugerüst der Unterjochung ihrer Brüder. Woher kommt's, daß die Geschichte der Weltreiche mit so wenig vernünftigen Endresultaten geschrieben worden? Weil, ihren größesten und meisten Begebenheiten nach, sie mit wenig vernünftigen Endresultaten geführt ist; denn nicht Humanität, sondern Leidenschaften haben sich der Erde bemächtigt[364] und ihre Völker wie wilde Tiere zusammen- und gegeneinandergetrieben. Hätte es der Vorsehung gefallen, uns durch höhere Wesen regieren zu lassen, wie anders wäre die Menschengeschichte! Nun aber waren es meistens Helden, d.i. ehrsüchtige, mit Gewalt begabte oder listige und unternehmende Menschen, die den Faden der Begebenheiten nach Leidenschaften anspannen und, wie es das Schicksal wollte, ihn fortwebten. Wenn kein Punkt der Weltgeschichte uns die Niedrigkeit unsres Geschlechts zeigte, so wiese es uns die Geschichte der Regierungen desselben, nach welcher unsre Erde ihrem größten Teil nach nicht Erde, sondern Mars oder der kinderfressende Saturn heißen sollte.

Wie nun? Sollen wir die Vorsehung darüber anklagen, daß sie die Erdstriche unsrer Kugel so ungleich schuf und auch unter den Menschen ihre Gaben so ungleich verteilte? Die Klage wäre müßig und ungerecht; denn sie ist der augenscheinlichen Absicht unsres Geschlechts entgegen. Sollte die Erde bewohnbar werden, so mußten Berge auf ihr sein und auf dem Rücken derselben harte Bergvölker leben. Wenn diese sich nun niedergossen und die üppige Ebne unterjochten, so war die üppige Ebne auch meistens dieser Unterjochung wert; denn warum ließ sie sich unterjochen, warum erschlaffte sie an den Brüsten der Natur in kindischer Üppigkeit und Torheit? Man kann es als einen Grundsatz der Geschichte annehmen, daß kein Volk unterdrückt wird, als das sich unterdrücken lassen will, das also der Sklaverei wert ist. Nur der Feige ist ein geborner Knecht; nur der Dumme ist von der Natur bestimmt, einem Klügern zu dienen; alsdenn ist ihm auch wohl auf seiner Stelle, und er wäre unglücklich, wenn er befehlen sollte.

Überdem ist die Ungleichheit der Menschen von Natur nicht so groß, als sie durch die Erziehung wird, wie die Beschaffenheit eines und desselben Volks unter seinen mancherlei Regierungsarten zeiget. Das edelste Volk verliert unter dem Joch des Despotismus in kurzer Zeit seinen Adel, das Mark in seinen Gebeinen wird ihm zertreten, und da seine[365] feinsten und schönsten Gaben zur Lüge und zum Betrug, zur kriechenden Sklaverei und Üppigkeit gemißbraucht werden: was Wunder, daß es sich endlich an sein Joch gewöhnet, es küsset und mit Blumen umwindet? So beweinenswert dies Schicksal der Menschen im Leben und in der Geschichte ist, weil es beinah keine Nation gibt, die ohne das Wunder einer völligen Palingenesie aus dem Abgrunde einer gewonnten Sklaverei je wieder aufgestanden wäre, so ist offenbar dies Elend nicht das Werk der Natur, sondern der Menschen. Die Natur leitete das Band der Gesellschaft nur bis auf Familien; weiterhin ließ sie unserm Geschlecht die Freiheit, wie es sich einrichten, wie es das feinste Werk seiner Kunst, den Staat, bauen wollte. Richteten sich die Menschen gut ein, so hätten sie's gut; wählten oder duldeten sie Tyrannei und üble Regierungsformen, so mochten sie ihre Last tragen. Die gute Mutter konnte nichts tun, als sie durch Vernunft, durch Tradition der Geschichte oder endlich durch das eigne Gefühl des Schmerzes und Elendes lehren. Nur also die innere Entartung des Menschengeschlechts hat den Lastern und Entartungen menschlicher Regierung Raum gegeben; denn teilet sich im unterdrückendsten Despotismus nicht immer der Sklave mit seinem Herrn im Raube, und ist nicht immer der Despot der ärgste Sklave?

Aber auch in der ärgsten Entartung verläßt die unermüdlich-gütige Mutter ihre Kinder nicht und weiß ihnen den bittern Trank der Unterdrückung von Menschen wenigstens durch Vergessenheit und Gewohnheit zu lindern. Solange sich die Völker wachsam und in reger Kraft erhalten oder wo die Natur sie mit dem harten Brot der Arbeit speiset, da finden keine weiche Sultane statt; das rauhe Land, die harte Lebensweise sind ihnen der Freiheit Festung. Wo gegenteils die Völker in ihrem weicheren Schoß entschliefen und das Netz duldeten, das man über sie zog, siehe, da kommt die tröstende Mutter dem Unterdrückten wenigstens durch ihre milderen Gaben zu Hülfe; denn der Despotismus setzt immer eine Art Schwäche, folglich mehrere Bequemlichkeit voraus, die entweder[366] aus Gaben der Natur oder der Kunst entstanden. In den meisten despotisch regierten Ländern nährt und kleidet die Natur den Menschen fast ohne Mühe, daß er sich also mit dem vorüberrasenden Orkan gleichsam nur abfinden darf und nachher zwar gedankenlos und ohne Würde, dennoch aber nicht ganz ohne Genuß den Atem ihrer Erquickung trinket. Überhaupt ist das Los des Menschen und seine Bestimmung zur irdischen Glückseligkeit weder ans Herrschen noch ans Dienen geknüpfet. Der Arme kann glücklich, der Sklave in Ketten kann frei sein; der Despot und sein Werkzeug sind meistens, und oft in ganzen Geschlechtern, die unglücklichsten und unwürdigsten Sklaven.

Da alle Sätze, die ich bisher berührt habe, aus der Geschichte selbst ihre eigentliche Erläuterung nehmen müssen, so bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden derselben aufbehalten. Für jetzt sein mir noch einige allgemeine Blicke vergönnet:

1. Ein zwar leichter, aber böser Grundsatz wäre es zur Philosophie der Menschengeschichte: »Der Mensch sei ein Tier, das einen Herren nötig habe und von diesem Herren oder von einer Verbindung derselben das Glück seiner Endbestimmung erwarte.« Kehre den Satz um: »Der Mensch, der einen Herren nötig hat, ist ein Tier; sobald er Mensch wird, hat er keines eigentlichen Herren mehr nötig.« Die Natur nämlich hat unserm Geschlecht keinen Herren bezeichnet; nur tierische Laster und Leidenschaften machen uns desselben bedürftig. Das Weib bedarf eines Mannes und der Mann des Weibes; das unerzogne Kind hat erziehender Eltern, der Kranke des Arztes, der Streitende des Entscheiders, der Haufe Volks eines Anführers nötig: dies sind Naturverhältnisse, die im Begriff der Sache liegen. Im Begriff des Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen Despoten, der auch Mensch sei, nicht; jener muß erst schwach gedacht werden, damit er eines Beschützers, unmündig, damit er eines Vormundes, wild, damit[367] er eines Bezähmers, abscheulich, damit er eines Strafengels nötig habe. Alle Regierungen der Menschen sind also nur aus Not entstanden und um dieser fortwährenden Not willen da. So wie es nun ein schlechter Vater ist, der sein Kind erziehet, damit es, lebenslang unmündig lebenslang eines Erziehers bedörfe; wie es ein böser Arzt ist, der die Krankheit nährt, damit er dem Elenden bis ins Grab hin unentbehrlich werde: so mache man die Anwendung auf die Erzieher des Menschengeschlechts, die Väter des Vaterlandes und ihre Erzognen. Entweder müssen diese durchaus keiner Besserung fähig sein, oder alle die Jahrtausende, seitdem Menschen regiert wurden, müßten es doch merklich gemacht haben, was aus ihnen geworden sei und zu welchem Zweck jene sie erzogen haben. Der Verfolg dieses Werks wird solche Zwecke sehr deutlich zeigen.

2. Die Natur erzieht Familien; der natürlichste Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter. Jahrtausendelang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden; denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie, nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen unter einen Zepter. Der Menschenzepter ist viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staatsmaschine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander. Reiche dieser Art, die dem besten Monarchen den Namen Vater des Vaterlandes so schwer machen, erscheinen in der Geschichte wie jene Symbole der Monarchien im Traumbilde des Propheten, wo sich das Löwenhaupt mit dem Drachenschweif und der Adlersflügel mit dem Bärenfuß zu einem unpatriotischen Staatsgebilde vereinigt Wie trojanische Rosse rücken solche Maschinen zusammen, sich einander die Unsterblichkeit verbürgend,[368] da doch ohne Nationalcharakter kein Leben in ihnen ist und für die Zusammengezwungenen nur der Fluch des Schicksals sie zur Unsterblichkeit verdammen könnte; denn eben die Staatskunst, die sie hervorbrachte, ist auch die, die mit Völkern und Menschen als mit leblosen Körpern spielet. Aber die Geschichte zeigt gnugsam, daß diese Werkzeuge des menschlichen Stolzes von Ton sind und wie aller Ton auf der Erde zerbrechen oder zerfließen.

3. Wie bei allen Verbindungen der Menschen gemeinschaftliche Hülfe und Sicherheit der Hauptzweck ihres Bundes ist, so ist auch dem Staat keine andre als die Naturordnung die beste, daß nämlich auch in ihm jeder das sei, wozu ihn die Natur bestellte. Sobald der Regent in die Stelle des Schöpfers treten und durch Willkür oder Leidenschaft von seinetwegen erschaffen will, was das Geschöpf von Gottes wegen nicht sein sollte, sobald ist dieser dem Himmel gebietende Despotismus aller Unordnung und des unvermeidlichen Mißgeschicks Vater. Da nun alle durch Tradition festgesetzte Stände der Menschen auf gewisse Weise der Natur entgegenarbeiten, die sich mit ihren Gaben an keinen Stand bindet, so ist kein Wunder, daß die meisten Völker, nachdem sie allerlei Regierungsarten durchgangen waren und die Last jeder empfunden hatten, zuletzt verzweifelnd auf die zurückkamen, die sie ganz zu Maschinen machte, auf die despotisch-erbliche Regierung. Sie sprachen wie jener ebräische König, als ihm drei Übel vorgelegt wurden: »Lasset uns lieber in die Hand des Herren fallen als in die Hand der Menschen!«, und gaben sich auf Gnade und Ungnade der Providenz in die Arme, erwartend, wen diese ihnen zum Regenten zusenden würde; denn die Tyrannei der Aristokraten ist eine harte Tyrannei, und das gebietende Volk ist ein wahrer Leviathan. Alle christlichen Regenten nennen sich also von Gottes Gnaden und bekennen damit, daß sie nicht durch ihr Verdienst, das vor der Geburt auch gar nicht stattfindet, sondern durch das Gutbefinden der Vorsehung, die sie auf dieser Stelle geboren[369] werden ließ, zur Krone gelangten. Das Verdienst dazu müssen sie sich erst durch eigne Mühe erwerben, mit der sie gleichsam die Providenz zu rechtfertigen haben, daß sie sie ihres hohen Amts würdig erkannte; denn das Amt des Fürsten ist kein geringeres, als Gott zu sein unter den Menschen, ein höherer Genius in einer sterblichen Bildung. Wie Sterne glänzen die wenigen, die diesen auszeichnenden Ruf verstanden, in der unendlich dunkeln Wolkennacht gewöhnlicher Regenten und erquicken den verlornen Wandrer auf seinem traurigen Gange in der politischen Menschengeschichte.

O daß ein andrer Montesquieu uns den Geist der Gesetze und Regierungen auf unsrer runden Erde nur durch die bekanntesten Jahrhunderte zu kosten gäbe! Nicht nach leeren Namen dreier oder vier Regierungsformen, die doch nirgend und niemals dieselben sind oder bleiben; auch nicht nach witzigen Prinzipien des Staats, denn kein Staat ist auf ein Wortprincipium gebauet, geschweige, daß er dasselbe in allen seinen Ständen und Zeiten unwandelbar erhielte; auch nicht durch zerschnittene Beispiele aus allen Nationen, Zeiten und Weltgegenden, aus denen in dieser Verwirrung der Genius unsrer Erde selbst kein Ganzes bilden würde: sondern allein durch die philosophische, lebendige Darstellung der bürgerlichen Geschichte, in der, so einförmig sie scheinet, keine Szene zweimal vorkommt und die das Gemälde der Laster und Tugenden unsres Geschlechts und seiner Regenten, nach Ort und Zeiten immer verändert und immer dasselbe, fürchterlich-lehrreich vollendet.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 360-370.
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