Ueber die Reichsgeschichte:
[461] ein historischer Spatziergang.

Was müßte ein vernünftiger Alter denken, wenn er auflebte, und unsre Geschichte betrachtete? Die Lehren unsrer historischen Kunst, und den Kontrast in Ausübung derselben? – Doch, ach! wenn dies nur der einzige unverantwortliche Wiederspruch in unsrer Litteratur zwischen Lehren und Thaten wäre!

Die Alten, Griechen und Römer, haben uns so vortrefliche Muster der Geschichte hinterlassen, daß es ein canonisirter Spruch geworden: hos sequere! und wer wäre es, dem man diesen Spruch, und das Nachahmungswürdige Schöne ihrer Historiographie erst vorbeweisen müßte. Warum ziehet der kleine südliche Strich von Europa, Griechenland und Rom, Jahrhunderte durch die Augen aller Welt so auf sich? Warum gehen wir an die Geschichte der mitlern Zeiten, im Occidente und so gar im Oriente, so ungern daran? Warum ist in dem Körper unsrer Welthistorie die Beschreibung dieser beiden Völker uns gewiß nicht blos Nationalgeschichte, Thaten, die im Winkel geschehen, sondern Merkwürdigkeiten der Welt? – – Eine kleine Vergleichung mit andern Zeiten und Gegenden wird zeigen, wie vieles dazu auch der Ton der Stimme beitrage, der Alles dies der Welt verkündigte.

Das ist nun gut für Griechen und Römer: aber warum, daß wir unsre Geschichte nicht eben so verkündigen? und den Ton unsrer Stimme nicht auch würdig unsres Vaterlandes und unsrer Zeit machen? – Regeln gnug liegen da. Historische Gesellschaften sind errichtet. Jeder arbeitet an der historischen Kunst: nur, an der Historie selbst – wenige. Und selbst unter den wenigen, wo sind die Thucydides, Xenophons, Livius, Tacitus, und Hume's unsres Deutschlandes? – – Ist es einem Wanderer, der nicht ein Dogmatischer Künstler der Geschichte seyn will, und kein Praktischer Künstler seyn kann, erlaubt, den mitlern Weg der Untersuchung zu nehmen: nicht, worinn und warum sich die Historiographie[462] der Neuen und Alten unterscheide? denn dieses große Thema ist für diesen Ort zu groß; sondern nur, warum sich die Deutsche Geschichte nicht so schlechtweg à la Greque oder à la Françoise behandeln lasse, wie unsre Gräcisirenden und Französirenden Schönsprecher wollen.

Zuerst, die ältesten Nachrichten von Deutschland haben eine andre Bewandniß, als die alte Geschichte des Griechischen oder Römischen Ursprunges. Wenn diese Altmüttermärchen ist, so ist sie es wenigstens im Munde ihrer Landesmütter, im Munde ihrer Liedersänger, ihrer Dichter, ihrer Fabelschreiber. Aus dieser Blume von eigner Nationalmythologie wird mit der Zeit die Frucht reifer währer Geschichte, ohne wundersame Einpfropfungen und Bezauberungen, nach dem Laufe der Natur. Und eben das Ordentliche dieses Naturlaufes ergänzet ungemein die Lücken der ältesten Geschichte. Die ersten historisch Dichterischen Mythologisten waren eine Produktion ihres Zeitalters: der Zeitgeist nahm ihnen allgemach immer mehr von ihrem Dichterischen Wunderbaren: sie fanden das Zeitalter der Wahrheit – Wie viel läßt sich nun bei diesem ungestörten Naturlaufe rückwärts schließen? wie manche Wahrscheinlichkeit zurück ausfinden, wo sonst nur Fabel wäre? Wie ungemein viel von der Veränderung solcher Landesscenen mit Gründen und Ursachen erklären? Philosophie tritt hier der Geschichte zur Seite, wo sie kaum noch Geschichte ist: sie leuchtet auch selbst, Chronologisch gerechnet, der Wahrheit gleichsam vor: die älteste Halbgeschichte wird Pragmatisch – wenigstens ein lehrender, ein bildender Dichterischer Roman.

Nicht so unsre älteste Landesgeschichte. Unsre Barden sind vertilgt, mit ihnen also auch die sinnreichen Dichtungen vertilgt, die sich aus den Altgriechischen Dichtern zusammenlesen und zu dem Tempel voll ehrwürdigen Ruinen aufhäufen lassen, an dem die Antiquarien seit Jahrtausenden gebauet. Aus Dichtern und über Dichter läßt sich auch historisch am besten dichten: wie aber, wo keine solche Dichter da sind? Man tritt in den Tempel der Griechischen Geschichte: Chöre von Sängern empfangen uns, und hinter[463] ihnen dringen Dollmetscher ihrer Gesänge doch unmittelbar an. Dollmetscher der Wahrheit? freilich nicht! aber so mancher Wahrscheinlichkeit, so mancher Erzählung, die den Boden der Geschichte nicht ganz leer läßt, so mancher Sage, die ungemein klug machen kann: durch die Griechen und Römer ihrer Geschichte so viel Farbe des Pragmatischen Ursprunges gegeben, die manchen Schulgrübler geblendet, die unsre Hübners mit so artigen Mährchen ausgefüllt, die so viel Antiquarische Hypothesen und Untersuchungen veranlasset – alles nicht bei der Deutschen Geschichte. Ich trete in ihren Tempel und – die Stimme der Barden schweigt. Kein Laut, kein Echo vergangener Zeiten.

Aber die Taciti unter den Römern? Sie haben mit ihren einzelnen Sylben und Stückwerken von den Deutschen uns mehr Ton gegeben, als ganze Liedersammlungen der Barden. Sie, Schriftsteller eines gebildeten Roms, Geschichtschreiber, die an den Merkwürdigkeiten so viel anderer Völker ihren historischen Geist gebildet hatten: sie, Geschichtschreiber der Deutschen nach Römischer Weise – – und eben des alles wegen sehr einseitige Schriftsteller Deutschlands. Da sie die Deutschen nur über und von den Gränzen aus, nur als Fremde, nur als ungesittete Barbarn, nur als Feinde kannten: so kannten sie sie nur immer, so fern sie nicht Römer waren, und das ist wenig. Wer sich nicht in die eigenthümliche Denkart eines so verschiednen Volks versetzen, aus dem eigenthümlichen Geiste desselben, aus den Geheimnissen seiner und ihrer Erziehung urtheilen kann, der weiß nur immer wenig: und wer als fremder, unbekannter, Politischer Feind, und was über alles ist, als Mensch einer andern Denkart schreibet, immer wenig. Er kann blos die von seinem Volke und seiner Cultur abstehende, oder höchstens die ihnen zugekehrte Seite zeichnen, und freilich die zeichnen Römische Taciti vortreflich.

Indessen sieht man, was hier zu einer Pragmatischen Geschichte fehlt? wie sehr sie in diesem verlassenen Anfange von der Römischen und Griechischen Historie, die die Origines ihres Volks, in einländischen alten Schriftstellern besitzen, absteche? in welchem[464] Gesichtspunkte man allein die Römer brauchen? auf welche Lücken man lieber zeigen, als sie hinterlistig verbergen? kurz! daß von den alten Deutschen keine innere Pragmatische Geschichte zu geben sey – –

So bis auf Karl den großen: in ihm aber entwickelt sich ein Zeitpunkt, der freilich so vieler historischen Intuition fähig ist, als einer seyn kann, nur daß er noch keinen so intuitiven Philosophen über sich gehabt. Karl könnte in der Nacht seiner Zeiten, wie ein Stern seyn, der über Frankreich, Deutschland und Italien leuchtet.

Jetzt aber sein Geschlecht – wie viel gehet hier von dem Stempel der Pragmatischen Geschichte weg. Ein Zeitpunkt der Barbarei und des Aberglaubens; siehe da! diese Larve liegt auch auf allen Gesichtern der Zeit, sie ist Gesichtspunkt der Begebenheiten, Triebfeder der Thaten, Farbe der Veränderungen, Ton der Historiographen. Nun wolle ein Griechischer Portraitmahler Charaktere zeichnen: und siehe! da stehet eine Reihe voll heiliger oder unheiliger Affengestalten, Kreuz in der Hand, und Kreuz auf dem Haupte, vor oder gegen die Pfaffen beschäftigt, entweder canonisirt oder im Fegefeuer, weder im Guten noch Bösen frei, eigenthümlich, Römisch, Griechisch. – Einförmige Mönchspatrone, oder Mönchsfeinde, ein in Nichtswürdigkeiten wühlender Unheiliger, oder was noch seichter ist, ein – Heiliger Ora pro nobis – Eine Gallerie solcher Köpfe, was ist sie gegen die Reihe Römischer und Griechischer Helden und Unmenschen in Plutarch und Tacitus? – Hausen sei Gewährsmann unter Carolingern, Sachsen und Franken. Er betet seine einförmigen Charaktere so wiederholentlich her, als eine Nonne die Vaterunser ihres Rosenkranzes: und Häberlin, der nicht hinter her beten wollte, muß also nur zu Ende der Zeiträume charakterisiren – wie viel klüger!

In dieser Zeit fängt sich an das heutige Römische Reich zu bilden. Die große Wasserblase ist zersprungen: kleinere reißen sich los: und durch ein wechselndes Zerspringen und Werden ist die Menge kleiner Fürsten, gleichsam am Rande des Gefäßes, gesichert.[465] Hauptgesichtspunkt ist also nicht blos der Reichs-, sondern der Deutschen Geschichte überhaupt, daß man diese allmäliche Schöpfung zum heutigen Staatskörper bei jeder Progression der Umbildung merke, genau aus Urkunden anmerke, auszeichne.

Einige süße Herren unsers Jahrhunderts haben sich mit guter Manier von diesem dunkeln und beschwerlichen Wege losgezählet, und vornehm zwischen Reichsgeschichte und Geschichte Deutschlands, zwischen genauen Nachrichten von der jedesmaligen Staatsverfassung, und zwischen einer schönen Geschichte voll Charaktere und hübscher Moralischen Reflexionen unterschieden. Das Citiren der Urkunden, die veste Bestimmtheit bei jedem Schritte, das gerade Hinblicken auf Staatskörper u.s.w. ist eine Pedanterie, die man einem Professor des Staatsrechts allenfalls verzeihen könne: die Mascove, Bünaus und Hahne sind veraltete Bibliothekenwächter: die Pütters und Gatterers endlich noch zum leidigen Gebrauch ihrer Reichsurkundlichen Zuhörer: die Hausens und alle neuere schöne Geister schreiben besser: schön, malend, Pragmatisch. Schade der trocknen Reichs- und Staatsgeschichte.

Und was ist denn eine Geschichte Deutschlands, die dies nicht wäre? Eine Griechische und Römische war eine Geschichte von Republiken ganz andrer Art, oder einzelnen großen Welthändeln, eines großen Mannes, oder einer großen Versammlung, die das Triebrad der größten Begebenheiten waren. Deutschland im Verfolg seiner Jahrhunderte ist weder Athen noch Rom, weder eine Monarchie, noch eine Republik, die der ganzen Welt (dieser orbis terrarum sei nun so groß, als er wolle) Ton gäbe: weder ein Schauplatz Griechischer Cultur und Freiheit, noch des Römischen Eroberungsgeistes. Es ist in sich eingezogen ein werdendes heiliges Römisches Reich, das noch heute in seiner Einrichtung das sonderbarste von Europa ist; es ist Jahrhunderte durch ein Chaos, aus dem sich Herzoge, Grafen und Herren, Bischöfe und Prälaten heben: ohne die es kein Deutschland gibt. Wie also eine Geschichte Deutschlandes, die keine Staats- oder Reichsgeschichte[466] sei? Eine Reihe von Römischen Kaisern in ihren Brustbildern, in ihren Privatanekdoten, in ihren Leibes- und Seelenbeschaffenheiten, zusammt ein Paar ihrer Thaten, füllet nichts aus, so lange Deutschland kein Schauplatz des Despotismus oder der Diktatur gewesen; ja das Meiste von diesem allen hat oft nicht einmal aufs Ganze Einfluß. Eine Kaiserhistorie für eine Geschichte Deutschlands genommen: so wird alles neben ihnen vergessen, was doch das wahre Deutschland ist: das liebe Herz der Kaiser mahlen, das doch nicht eben, wie der Charakter Alcibiades, Alexanders, Augustus und Nero, zugleich das Herz Deutschlands war? Eine Kaiserkrone schildern, die auf ihrem Küssen oft ruhig lag, und gewiß den Kopf von Deutschland nicht ausmachte. – –

Jeder siehet, daß hier kaum eine Pragmatische Geschichte nach Art der Alten möglich ist. Dort gingen alle Fäden an gewisse Hauptenden zusammen, aus denen sie sich gesponnen: hier steht man Jahrhunderte durch am brausenden Meere, damit aus ihm eine Menge von Inseln werde. Wo hier Einheit? wo Evidenz? wo Interesse nach Art der Alten, wenn ihre Geschichte das Muster seyn soll? Die Geschichte von Deutschland muß so ein Original seyn, als Deutschlands Verfassung.

Und ist diese werdende Verfassung Hauptgesichtspunkt, wo kommen wir hin, wenn wir Urkunden und Diplome, u.s.w. verachten, und schön Französisch dichten? Dichten läßt sich noch zur Noth der Roman eines Monarchen, einer einfachen Republik: aber über die trockne Frage: wie ward jeder in Deutschland, was er ist? was ist er in jedem Zeitalter gewesen? über die läßt sich nicht dichten. Eine Geschichte voll Geist und Thaten, wie die Alte, wird unsre nie werden; sie ist eine trockne Geschichte des Ranges, des Rechtes, des Zanks; aber eine Französische sollte sie nie werden wollen, weil sie bei ihren Materien mit Wahrheit und Genauigkeit Alles verliert. Nicht der Geist des Vernünftelns kann ihre Seele seyn; denn wie wenig ist in Deutschland durch Vernünftelei geworden? fortgehende Aufklärung ihres ganzen Seyns ist ihr Geist und Leben –[467]

Die Geschichte der Carolinger, Sachsen und Franken ist hiezu eine wichtige, aber wie verdrießliche, wie verwirrte, wie unannehmliche Scene, wenn wir Französisch denken, wenn wir blos malen, vernünfteln, überraschen, und darf ich noch dazu setzen, blos bilden wollen? Der Charakter der Deutschen hat von jeher das Trockne gehabt, sich um einen Ceremonienrang, um dies und jenes urkundliche Hoheitszeichen, um ein und das andre Recht, nicht weil es Vortheil, sondern weil es Rechtsfoderung war, zu interessiren, sich interessiren zu lassen, sich oft die Hälse zu brechen. Diesen Charakter wird auch die Geschichte Deutschlands nicht verläugnen, und muß sie es nicht, wenn wir sie nach einer andern, sie sei Griechisch oder Römisch, Brittisch oder Französisch, modeln wollen? Der Geist, der alle diese Völker belebte, und wenn wir ihn auch jedesmal Ehre nennen wollen; Himmel! wie sehr ist nicht die Griechische Ehre, und die Römische Ehre, und die Brittische Ehre, und die Französische Gloire und der Deutschen Rang verschieden? oder wenn wir diese Triebfeder hier und da auch Freiheit nennen wollen, nicht noch immer verschieden? – – Und wenn nun eine Idiotistische Nationalgeschichte der Deutschen, Merkmale dieser Deutschen Freiherrlichkeit, einige Franzen dieses Ceremonienhimmels, und wenn sie auch so sehr auf Kosten ihrer Nation gesponnen wären, haben muß; wird da nicht eine gewisse trockne Pünktlichkeit, ein steifer gemessener Schritt von Urkunde zu Urkunde oft beinahe unvermeidlich seyn?

Und für Deutsche fast unentbehrlich. Es sei Ungelenkigkeit, oder was es sei, daß ich bei Geschichte auf schönen Vortrag und Weltweise Anmerkungen nur immer zuletzt sehe, bei jedem Factum trockne und genaue Nachricht, bei jedem Datum sichere Gewährleistung verlange, und bei manchen schönen Geschichtsromänen mal über mal mit Unwillen frage: Redest du das von dir oder haben dirs andre gesagt? daß ich mit Unwillen umherirre, wenn ich nicht weiß, ob dies Sache, That, Geschichte – oder Bemerkung, Einfall, Meinung des Geschichtschreibers ist: daß ich mit Peinlichkeit unterscheide: ist dies Geschichte Englands, wie sie geschehen ist, oder[468] wie Hume meint, daß sie sich hätte zutragen können? ja, daß ichs für Fehler und Verderbniß aller Geschichte halte, auf nichts als Historische Kunst, Epische Anordnung, Pragmatische Bemerkungen, Philosophische Einlenkungen zu dringen, unter denen ich den nackten wahren Körper der Geschichte so wenig erkennen kann, wie er ist, als wenn der Emil des Bruder Philipps vor seinem Gänschen stille stehen, und aus dem äußerlichen Anzuge, und dem Reifrocke, und der Schnürbrust desselben auf die verborgene wahre Gestalt des geputzten weiblichen Körpers weissagen sollte. – – Bei aller unsrer Zurichtung der Historie für den guten Geschmack sollte es also Hauptregel seyn, genau dem Leser die Gränze zu bezeichnen, wo Geschichte aufhört, und Vermuthung anfängt; ja genau den Grad der Gewißheit bei jedem Tritte. Gehört dies nun der ganzen Geschichtskunde als Eigenthum zu: vielmehr unsrer strengen trocknen Deutschen. Bei uns kommt das Wort Geschichte, nicht von Schichten und Episch ordnen, und Pragmatisch durchweben, sondern von dem vielbedeutenden strengen Worte: geschehen her, und darüber will ich auch nicht bis auf Einen Punkt in Ungewißheit bleiben.

Darf ich mein Gutachten zu einer Deutschen Reichsgeschichte fortsetzen? Viele Jahrhunderte durch ist Deutschland in die Geschichte eines andern Landes rechtlich, und dazu kirchlich verwickelt gewesen, und eine rechtlich-kirchliche Verwicklung ist für Deutschland nach seiner Verfassung, und für einen Geschichtschreiber, der dieser Verfassung folgen will, die größte Verwicklung. Dies Land ist Italien. Pfaffen waren die Bekehrer der Deutschen zum Pabst, und diese Päbstlichen Apostel, vom heil. Bonifacius an, wurden die ersten Reichsfürsten: Pfaffen und Bischöfe wurden die ersten Reichsstände und Freiherrlichkeiten: die ersten kleinen Souverainen und Friedensstörer. Nicht blos also daher, daß Deutschland gleich von seiner ersten Formung vor andern eine sehr kirchliche Gestalt bekam, sondern auch, daß lange nachher seine Kriege so oft nahe an Pfaffenstreitigkeiten und Bischofsvorzüge gränzten. Und da diese Rang- und Rechtsgeistliche zwei[469] Häupter hatten, eins in, und eins außer Deutschland: wie anders, als daß daher der Mittelpunkt Deutscher Thaten und Geschichte so lange und oft außer Deutschland fällt, nach Italien, nach Rom hin – eine neue Quelle historischer Verwirrungen! Und wie anders, als da diese Päbstisch-Italienisch-Deutschen-Geschichte so lange und oft wieder nichts als Rang-Kirchen- und Rechtsstreitigkeiten enthalten, diese die trockensten, verwickeltsten, und oft eckelhaft seyn müssen? Und doch müssen sie es seyn. Und doch ist eben diese Entäußerung Deutschlands Deutsche Geschichte. Und doch eben diese Streitigkeiten und Rang- und Römerzüge der Ursprung Deutscher Verfassung – wie wenig Französiren kann hier unsre Geschichte! Der Historiograph muß hier schon Schild- und Wapenträger des heil. Römischen Reichs werden, er wolle, oder nicht.

So läuft die Geschichte viele Kaiserreihen herunter, wo der Historikus auf einem Gebirge sitzen muß, um auf Deutschland und Italien seine Augen fliegen zu lassen, um keine bloße Fürsten- noch Kaiser- noch Pabstgeschichte, sondern eine Historie Deutscher Nation zu schreiben, wo diese sich findet, in Kreuz- oder Römerzügen; wo sie lernet, in Neapel bei den Saracenen, oder in Schwaben bei den Sängern der Liebe: womit sie sich beschäftigt, es sei mit dem Faustrechte oder Guelfenstreite – überall Deutsche Geschichte: und jedesmal der Geschichtschreiber ein Hausgenosse, ein Ministerial des Zeitgeistes. Helle Punkte, leuchtende Sterne, Milchstraßen gibts überall, insonderheit im Schwäbischen Zeitalter: aber der Grund bleibt nächtlicher Himmel: Reichsurkundliche Trockenheit!

Bis auf die mitlere Habsburgische Geschichte, wo sie sich mehr entwickelt, aber auch mit jedem Zolle der Entwickelung rechtlicher und Reichsurkundlicher wird. Das Gerechtsame, das Reichskräftige wird immer augenscheinlicher Deutschlands Geist, und so auch Geist Deutscher Geschichte. So fort bis auf Maximilian und Karl den fünften, deren Zeitalter ich für den Mittelpunkt aller Geschichte hinter den Römern, für die Basis aller neuern Europäischen Verfassung, und für einen Raum halte, der durch alle[470] Länder Europens hinüber der vortreflichste zu der besten historischen Bearbeitung seyn müßte. Von hieraus fängt sich alles an, Staats-Litteratur-Religionsveränderung – eine neue Geburt des Menschlichen Geistes durch ganz Europa.

Weiter gehe ich nicht: wie sich die neueste Deutsche Geschichte Pragmatisch behandeln lasse, werden Adelung und Hausen beantworten, jener ein Zeitungsstoppler, dieser ein Geschichtmaler zur Gnüge. Ich ziehe aus meinen Miscellaneen nur dies heraus: daß die Deutsche Geschichte sich gar nicht Halbgriechisch oder Halbfranzösisch behandeln lasse – ein Thema, das ich an anderm Orte mit verunglückten Beispielen beweisen werde. Hier nur so viel: daß Hr. Kl. ohne innere Känntniß der Sache urtheile, wenn er die Mascove, und Bünaus, und Pütters so tadelt, wie er tadelt, und ohne Känntniß der Sache urtheilet, wenn er die Hausens auf Kosten dieser Männer lobet. Eine Deutsche Geschichte soll freilich noch geschrieben werden: aber wahrhaftig nicht nach Klotzischem Ideal, da dieser Vielwisser aus einigen Proben1 nichts weniger zu wissen scheint, als Deutsche Geschichte – –

Und Griechische Geschichte – wenn ich manche seiner Urtheile über das Innere Griechenlandes, und am meisten seinen süßen in lauter Hogarthschen Wellen- und Schlangenlinien schleppenden Stil betrachte – nie hat Hr. Kl. weiser geurtheilet, und weiser geschrieben, als da er dem Auszuge aus der Allgemeinen Weltgeschichte, wichtigerer Thaten wegen, entsagte.

1

Siehe zurück in die Beurtheil. des Beitr. zur Geschichte der Münzen.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 461-471.
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