Drittes Kapitel

[98] Will noch jemand reden?« fragte Friedmann, der Vorsitzende.

»Ich!« schrie Mendel und war mit einem Satz auf der Rednerbühne.

»Der Herr Architekt Steineck hat uns e Red' gehalt'n. Me kenn sag'n, es war e scheene Red'. Me kenn auch sag'n, es war e grobe Red'. Ich sag', es war e grobe Red'.«

Friedmann fiel ihm ins Wort:

»Du, Mendel, beleidigen wirst du nicht! Das erlaub' ich nicht.«

Aber Mendel entgegnete:

»Beleidigen? Wer beleidigt? Er hat uns beleidigt. Er hat gesagt, mir sein nit wert, daß uns bescheint de Sonn'. Worum sein mir es nit wert? Weil mir nit woll'n ereinlass'n e jed'n. Wer hat sech geplagt un gerackert mit den Boden? Mir! Wer hat erausgeklaubt de Staner? Mir! Wer hat ausgetrocknet de Sümpf', gegrab'n de Kanäl', gepflanzt de Bäum', wer hat geschwitzt un gefror'n bis dos alls fertig war? Mir, mir, mir! Un jetzt auf amol soll es nix uns gehörn? Na, dos is ka Red'. Mir sennen ehergekummen, da war hier nix, gar nix. Jetzt is da e Musterwirtschaft. Da drin steckt unser Schweiß un Blut un unsere Arbet. Dos mit'n nächsten und dauernden Vorteil, dos versteh' ech nit. Vielleicht versteht's Etz es besser? Was den Dr. Geyer betrefft, der liegt mir stark auf. Was er früher gesogt hat, liegt mir auch stark auf.[98] Aber jetzt hat er recht, dos waas ech. Wos mir uns geschafft hob'n mit unsere Händ, dos muß uns bleib'n, do lass'n mir uns nit ewegnemmen, von niemanden. So! Mehr hob ech nit zu sog'n.«

Schüchterner Beifall regte sich in der Menge, aber man hielt sich offenbar aus Rücksicht auf die Gäste von einem lauten Ausbruch zurück.

Nachdem Mendel abgegangen war, schritt David Littwak zur Tribüne. Sein Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck, als er mit klarer, weithin vernehmbarer Stimme anfing:

»Meine Freunde! Ihr werdet mich anhören. Ihr wißt, ich bin aus eurem Blut. Ich habe wie ihr auf dem Felde gearbeitet, an meines Vaters Seite. Ich habe mich etwas höher hinaufgeschwungen, aber ich kenne die Schmerzen und Freuden des Landmannes. Ich weiß, wie euch zu Mut ist, und dennoch sage ich euch, daß Mendel nicht recht hat.

Vorerst denkt niemand daran, euch etwas wegzunehmen, was euch gehört. Wenn das einer versuchen wollte, würde ich bis zu meinem letzten Atemzuge an eurer Seite kämpfen. Nein, es handelt sich gar nicht darum, eure guten erworbenen Rechte zu schmälern. Die Früchte eurer Arbeit sollen euch bleiben und werden sich mehren. Die Frage steht anders, ganz anders, als man es euch sagte.

Mendel ist guten Glaubens, aber er irrt sich. Vor allem irrt er sich darin, wenn er meint, daß alles, was wir sehen können, das Werk eurer Hände ist. Eure Hände haben es gemacht, aber eure Köpfe haben es nicht erdacht. Ihr seid zwar, gottlob! nicht zu unwissend, wie es die Bauern früherer Zeiten und anderer Länder waren, aber doch kennt ihr die Herkunft eurer eigenen glücklicheren Verhältnisse nicht. Was ist Neudorf? Wer es zum erstenmal sieht, ohne die Geschichte der Niederlassung zu kennen, der wird sich höchstens wundern oder freuen, daß an der alten Römerstraße nach Tiberias, im Wadi Rummane diese blühende Ortschaft entstanden ist. Ich bin heute mit zwei fremden Herren herausgefahren und ich war stolz, ihnen unsere Herrlichkeiten zeigen zu können, unsere Felder, auf denen jetzt die Gerste blüht, unsere Weiden und Baumschulen, unsere grünen Gärten, unsere schmucken Häuser, unsere Zuchttiere und Maschinen, unsere Bewässerungen und unsere eroberten Moore. Ich sage unser, obwohl mir keine Spanne Feld und kein Stück Vieh gehört. Alles ist euer, aber ich fühle mich da so zu Hause, daß ich ›unser‹ sagen kann. Und wenn mich die Herren fragen, wer das alles in zwanzig kurzen Jahren hervorgezaubert hat, so werde ich ihnen genau so wie Mendel antworten: Wir, wir, wir!

Ja, aber wie? Sind wir einfach hergegangen und haben mit unseren Händen gearbeitet, wie Mendel sagt? Mit unseren ungeschickten Händen, die früher so wenig die Feldarbeit gewohnt waren? Wie konnten wir solche Resultate erzielen, die man früher hier nie erzielt hat? Wenigstens hat man sie nie erzielt, bevor die deutschen protestantischen Bauern am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hierherkamen und einzelne Kolonien gründeten. Und diesen Tüchtigsten der Tüchtigen haben wir es gleichgetan, haben sie sogar überflügelt. Wie ist das zugegangen?

Es ist wahr, ihr habt gearbeitet, mit der ganzen Begeisterung, die wir Juden für unsere heilige Erde haben. Für andere war das ein unergiebiger Boden, für uns war[99] es ein guter, weil wir ihn mit unserer Liebe düngten. Unsere ersten ruhmreichen Kolonisten haben das schon vor dreißig Jahren gezeigt. Und doch waren jene Ansiedelungen ökonomisch nicht viel wert, weil sie nach einem falschen Prinzip errichtet waren. Die dort drüben konnten mit all ihren modernen Maschinen doch nur das alte Dorf machen. Ihr aber habt das neue Dorf und das ist nicht allein eurer Hände Werk, meine Freunde!

Und ihr werdet es für einen Scherz halten, wenn ich euch sage, daß Neudorf gar nicht in Palästina gebaut worden ist, sondern anderswo. Es ist gebaut worden in England und Amerika, in Frankreich und in Deutschland. Es ist entstanden aus Erfahrungen, Büchern und Träumen. Die mißglückten Versuche von Praktikern wie von Phantasten mußten euch zur Lehre dienen, ihr wißt es gar nicht.

Ehemals gab es Bauern, die so fleißig waren wie ihr und doch auf keinen grünen Zweig kommen konnten. Der Bauer alten Stils kannte seinen eigenen Boden nicht. Er wußte nicht, was in seiner Erde stak, denn er war zu beschränkt, um die Scholle chemisch untersuchen zu lassen. Er schwitzte nur darauf los, wandte mehr Kraft auf, als nötig war, oder an der unrichtigen Stelle oder mit ungeeigneten Mitteln. Der alte Bauer konnte nicht ökonomisch arbeiten, weil er wie im Nebel nicht drei Schritte vor sich hin sah. Brauchte er für Verbesserungen Kredit, geriet er in Wucherschulden, so daß auch der beste Ertrag schon auf dem Halm hin war. Gegen Hagelschlag und Ungezieferplage war er nicht versichert. Zur Bewässerung und Entwässerung des Bodens reichte seine einzelne Kraft nicht aus. Bei Mißwachs kam er ins Elend und eine gute Ernte machte ihn nicht reich, weil er den Weltmarkt nicht aufsuchen konnte. Er hatte zu wenig oder zu viele Arbeitskräfte. Seine hungrigen Kinder konnte er nichts lernen lassen und so wuchsen sie in derselben Dumpfheit auf, wie er selbst und seine Vorfahren. Und als die neuen Verkehrsmittel aufkamen, da schien es, als wären alle nur für den Untergang der alten Bauern ersonnen. Der Ackerbau wurde in jungfräulichen Ländern großwirtschaftlich. Die Maschinen machten den großen Grundbesitzer noch reicher und den kleinen noch ärmer. Eine neue Hörigkeit entstand. Der freie Bauer mußte Knecht werden und seine Kinder wanderten als Lohnsklaven in die Gefangenschaft der Fabrik.

Im Bauernstande war die alte Gesellschaft an ihrer breiten Grundlage getroffen, und viele rechtschaffene Männer haben darüber geseufzt, haben studiert und probiert, wie man es bessern könnte. Alle Hilfsmittel der Wissenschaft und Erfahrung wurden aufgeboten. Das eine war jedem klar, daß im Zeitalter der Maschinen die Grundbedingungen der menschlichen Existenz unserer neuen Kenntnis der Naturkräfte angepaßt werden mußten. Das neunzehnte Jahrhundert war ein merkwürdig hinkendes Zeitalter.

Im Anfange dieser kuriosen Zeit nahm man die konfusesten Schwärmer ernst und hielt die praktischsten Erfinder für verrückt. Der große Napoleon glaubte nicht, daß das Dampfschiff Fultons etwas Nützliches sei. Hingegen gewann der verworrene Fourier gleich einen Anhang für seine Phantasterien, die den Wohn- und Arbeitsort für einige hundert Familien bilden sollten. Stephenson, der Begründer der Eisenbahn, und Cabet, der Träumer von Ikarien, waren Zeitgenossen. So könnte ich euch noch viele Namen nennen, die ihr vielleicht zum erstenmal hört.«[100]

Alle hatten diesen Worten, die mehr ein belehrender Vortrag als eine Volksrede sein wollten, ruhig gelauscht. Jetzt, in der Atempause Davids, erhob sich Mendel und sagte höflich, aber laut: »Zu der Sach'! Wos hat dos mit unser Neudorf zu schaff'n?«

David entgegnete gelassen:

»Sehr viel, meine Freunde!

Jeder neuen Maschine pflegte in diesem kuriosen neunzehnten Jahrhundert ein neuer sozialistischer Traum zu antworten. Dieses Jahrhundert ist mir immer wie eine große Fabrik erschienen, in der sinnreiche Apparate von unglücklichen Menschen bedient wurden. Aus dem Fabrikschlote stiegen Rauchwolken in den Himmel, der früher blau gewesen. Diese wunderlich geformten, unbestimmten zerfließenden Rauchwolken aber stellten die Zukunftsverheißungen der Sozialisten dar. Und wenn die seufzenden Menschen hinaufblickten, sahen sie nicht mehr ihren Himmel von einst, sondern die fabrikrauchgeborenen Wolken eines Zukunftsstaates.

Es gab auch rosigere Wolken, zum Beispiel die berühmte Wolke des Amerikaners Bellamy, der in seinem »Rückblicke aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887« eine edle kommunistische Gesellschaft darstellt. Dort kann jeder aus der allgemeinen Schüssel so viel essen, als er mag. Der Wolf weidet neben dem Lamm. Schön, sehr schön! Nur sind dann die Wölfe keine Wölfe und die Menschen keine Menschen mehr. Nach Bellamy kam der Staatsromantiker Hertzka und entwarf seine Utopie »Freiland«, ein sehr brillantes Zauberkunststück, vergleichbar dem unerschöpflichen Hute des Taschenspielers. Es sind schöne Träume oder wenn ihr wollt Luftschiffe, aber lenkbar sind sie nicht. Denn diese edlen und menschenfreundlichen Erzähler begannen ihre sinnreichen Werke mit einem Beweisfehler. Die Gelehrten unter euch – ich weiß, daß es auch in Neudorf wie vor dreißig Jahren in Katrah gelehrte Bauern gibt –, die werden mich verstehen, wenn ich sage, daß die Erzähler jener Utopien eine petitio principii begingen. Sie bewiesen mit etwas, das erst zu beweisen war: nämlich, daß die Menschen bereits die Reife und Freiheit des Urteils hätten, welche zur Einrichtung einer anderen Gesellschaft nötig sind. Oder vielleicht waren sie sich darüber klar, und es fehlte ihnen nur der feste Punkt, an dem Archimedes den Hebel einsetzen wollte. Sie glaubten, die Maschinerie sei das Wichtigste, um etwas Modernes zu schaffen. Nein, die Kraft ist es, nach wie vor die Kraft, immer nur die Kraft. Freilich, wenn ich einmal über die Kraft verfüge, dann werde ich sie durch die neuesten Erfindungen im Maschinenwesen aufs höchste ausnützen. Wir aber, wir hatten diese Kraft. Woher hatten wir sie? Aus dem ungeheuren und allseitigen Druck, der auf uns geübt wurde, aus der Verfolgung, aus der Not. Das trieb die Zerstreuten zusammen und machte ihre Vereinigung stark, denn es waren nicht nur Arme, sondern auch Mächtige, nicht nur Junge, sondern auch Weise, nicht nur Enthusiasten, sondern auch Gebildete, nicht nur Hände, sondern auch Köpfe dabei. Ein Volk, ein ganzes Volk fand sich zusammen, nein, fand sich wieder. Und wir haben die neue Gesellschaft gemacht, nicht weil wir bessere Menschen waren, sondern nur ganz einfach Menschen mit[101] den gewöhnlichsten menschlichen Bedürfnissen nach Luft und Licht, nach Gesundheit und Ehre, nach Freiheit im Erwerben und Sicherheit im Besitze. Und da wir ans Bauen gehen mußten, haben wir uns eben das Haus von 1900 und nicht etwa das Haus von 1800 oder von 1600 oder aus irgend einer früheren Epoche gebaut. Das ist doch alles selbstverständlich und klar. Wir hatten dabei kein großes Verdienst, wir leisteten nichts Ungewöhnliches, wir taten nur, was zu tun in unserer Zeit, unter unseren Umständen eine historische Notwendigkeit war.«

Mendel wurde ungeduldig und lärmte:

»Zu der Sach'! Zu der Sach'!«

David sagte freundlich:

»Ich bin gleich zu Ende, denn ich will euch nur euren Anfang zeigen. Euer Anfang wäre nicht möglich gewesen ohne die riesige sozialpolitische Arbeit, welche im neunzehnten Jahrhundert geleistet wurde. Einzelne Juden haben sich an dieser Arbeit beteiligt, aber keineswegs Juden allein. Was aus den gemeinsamen Anstrengungen hervorging, darf keine Nation als ihr Eigentum ausgeben. Es gehört allen Menschen. Wer dankbar oder wißbegierig ist, wird vielleicht nach den Pfadfindern auf diesem glücklicheren Wege der Menschheit fragen. Dem angelsächsischen Stamme, meine Freunde, gebührt da der oberste Ruhm. Denn bei den Engländern finden wir zuerst die Ansätze des genossenschaftlichen Wesens, das wir übernommen und fortentwickelt haben. Die deutsche Wissenschaft hat auch ihr tiefes Wort dazugegeben. Wenn jemand von euch darüber mehr wissen will, so werde ich ihm die Bücher zur Geschichte der Kooperation in England, Deutschland und Frankreich zeigen.«

Ein junger Bauer erhob seine Hand, als wenn er zu sprechen wünschte. Friedmann sah ihn und fragte laut:

»Was willst du, Jakob?«

Der Jüngling errötete, weil er nachträglich über seine Kühnheit erschrak und sprach in bescheidenem Tone:

»Ich hab' Herrn Littwak nur sagen wollen, daß wir in der Gemeindebibliothek die Geschichte der Pioniere von Rochdale haben.«

»Geben Sie sie Herrn Mendel zu lesen«, antwortete ihm David. »Es ist eine schöne, lehrreiche Geschichte. Die redlichen Pioniere von Rochdale, wie man sie nannte, haben viel für euch getan. Das heißt, sie haben für die ganze Menschheit viel getan – obwohl sie nur an sich selbst dachten. Wenn ihr heute in euren Konsumverein geht und die besten Waren zum billigsten Preise bekommt, so habt ihr das den Pionieren von Rochdale zu verdanken. Und wenn euer Neudorf heute eine blühende landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft ist, so habt ihr das den armen Märtyrern von Rahaline in Irland zu verdanken. Auch diesen war es nicht klar, welche weltgeschichtliche Tat sie vollbrachten, als sie im Jahre 1831 das erste neue Dorf der Welt mit Hilfe ihres Gutsherrn Mr. Vandaleur begründeten. Ja, es vergingen viele Jahrzehnte, bevor die Gelehrtesten und Klügsten die Idee von Rahaline begriffen. Rochdale mit dem Konsumverein wurde viel früher verstanden als Rahaline mit dem neuen Dorf auf genossenschaftlicher Grundlage. Als aber wir unsere neue Gesellschaft einrichteten, da legten wir natürlich gleich das neue Dorf[102] an, statt des schlechten alten. Nichts ist hier in Neudorf, was nicht schon in Rahaline war. Der ganze Unterschied ist, daß an Stelle des Mr. Vandaleur hier die große Vereinigung steht, deren Mitglieder ihr auch wieder seid: nämlich die neue Gesellschaft.«

Wieder hob jener junge Bauer die Hand auf, und als der Redner erstaunt einhielt, sagte er bescheiden:

»Wollen Sie uns nicht die Geschichte von Vandaleur und Rahaline sagen, Herr Littwak?«

»Gern, meine Freunde! ... Zu jener Zeit war Irland ein armes Land mit der unglücklichsten Bevölkerung. Die Landpächter waren Lumpenproletarier, ja sogar Diebe und Mörder geworden. Es gab da einen Gutsherrn, welcher Vandaleur hieß. Der hatte eine besonders ungestüme Pächterschaft auf seinen Gütern. Anfangs 1831 war das Elend sehr groß. Die Landleute begingen aus Not einige scheußliche Verbrechen. Mr. Vandaleur hatte einen Verwalter, der wegen seiner Strenge bei den Arbeitern verhaßt war und in ihrer Verzweiflung ermordeten sie diesen rohen Vogt. Was tat nun Vandaleur? Etwas Großes. Statt die Leute noch härter zu behandeln, verfiel er auf den übermenschlichen Gedanken, ihnen Gutes zu tun. Er rief die trotzigen und verwahrlosten Männer zusammen, vereinigte sie zu einer Arbeitergenossenschaft und gab dieser Genossenschaft sein Gut Rahaline in Pacht. Der Zweck dieser Vereinigung war, daß sie ein gemeinsames Kapital benutzen, sich gegenseitig unterstützen, eine bessere Lebensweise führen und ihre Kinder ordentlich erziehen sollten. Die Vorräte und Werkzeuge der Wirtschaft sollten so lange Eigentum des Grundherrn Mr. Vandaleur bleiben, bis sie von der Genossenschaft bezahlt würden. Darum sollte die Genossenschaft ihre Reinerträge in einen Reservefonds bringen. Die Genossenschaft verwaltete sich selbst. Ein Komitee wurde von den Mitgliedern frei gewählt, es bestand aus neun Männern. Jeder dieser neun Räte hatte eine Abteilung unter sich: der eine die Landwirtschaft, der andere die Manufaktur, der dritte die Handelsgeschäfte, der vierte die Jugenderziehung, und so weiter. Die täglichen Arbeiten wurden vom Komitee bestimmt. Jeder mußte mitarbeiten nach seinen Kräften. Der Lohn, der den Mitgliedern von der Genossenschaft ausgezahlt wurde, war der in der Gegend übliche. Von ihrem Lohn mußten sie geringe Abgaben an den Krankenfonds und dergleichen leisten. Sie waren scheinbar Lohnarbeiter eines Pächters, aber der Pächter waren sie selbst. Mr. Vandaleur behielt sich nur die Oberaufsicht bei diesem Versuche vor. Und der Versuch gelang wunderbar gut. Mr. Vandaleur bezog aus Rahaline mehr Rente und Zinsen als je vorher. Und die Arbeiter, die im tiefsten Elend gelebt hatten, begannen plötzlich, ohne jeden Übergang, wie von einem Zauberstabe berührt, zu gedeihen. Sie arbeiteten mit Lust und Erfolg. Sie wußten, daß sie es für sich selbst taten und das gab ihnen Wunderkräfte. Dieselben Männer von Rahaline, die ihren Vogt ermordet hatten, verrichteten die größten Arbeiten ohne Aufseher. Denn sie beaufsichtigten sich gegenseitig. Über die Arbeitsdauer und Leistung eines jeden Arbeiters wurde Buch geführt, und am Ende der Woche erhielt jeder so viel, wie er wirklich verdient hatte. Keine Gleichheit im Verdienst! Dem Tüchtigen mehr, dem Faulen weniger!«[103]

»Bravo!« schrie hier jemand aus der Menge, und man lachte ein bißchen. David aber fuhrt fort:

»Es wurde bald festgestellt, daß ein Arbeiter von Rahaline im Durchschnitt doppelt so viel leistete wie ein Arbeiter der Umgegend. Und es war doch derselbe Boden, es waren dieselben Menschen. Aber sie hatten das erlösende Prinzip gefunden: die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft! Die Lohnzahlung erfolgte nicht in Geld, sondern in Arbeitsnoten, die nur im Kramladen von Rahaline Kurs hatten. Aber alles, was sie brauchten, bekamen sie in ihrem Kramladen, der auch der Genossenschaft gehörte. Der Laden führte nur die Waren bester Qualität zu Engrospreisen. Die Geschichtsschreiber melden uns, daß die Leute von Rahaline in ihrem Laden alles um fünfzig Prozent billiger bekamen. Jedes Mitglied war steter Beschäftigung und desselben Betrages aus dem Unterhaltsfonds an jedem Tage des Jahres sicher. Die Kranken und Invaliden fanden Unterhalt und Pflege. Beim Tode des Vaters war für die Kinder gesorgt ... aber ich will euch da nicht lange erzählen, was ihr in Büchern besser finden könnt. Ich werde euch lieber die Bücher von Webb-Potter, Oppenheimer, Seifert, Huber und wie sie alle heißen, für eure Bibliothek schicken.«

Noch einmal ließ sich der bescheidene junge Arbeiter vernehmen:

»Herr Littwak, wie ist es dann in Rahaline weitergegangen?«

David entgegnete:

»Im Laufe von nur zwei Jahren blühte Rahaline außerordentlich auf. Wohnungen und Möbel, Essen, Kleidung, Lebenshaltung und Kindererziehung zeigten den Wohlstand gesunder Bauern. Die jährlichen Reinerträge über die Pachtsumme wuchsen, und die Genossen von Rahaline wären wohl nach kurzen Jahren die Eigentümer des Pachtgutes geworden – wenn Mr. Vandaleur sein eigenes Werk nicht im Stiche gelassen hätte. Vandaleur verlor sein Vermögen am Spieltisch in Dublin und er entfloh nach Amerika. Seine Gläubiger verkauften Rahaline, die Pachtgenossen wurden vertrieben, und die glückliche Insel versank wieder in einem Meer von Elend ... Aber die Lehre von Rahaline ging nicht verloren. In der Wissenschaft wurde sie aufbewahrt, und als wir unser Volk auf den geliebten Boden von Palästina zurückführten, da haben wir Tausende von Rahalines geschaffen. Ein Vandaleur wäre dazu nicht stark und verläßlich genug gewesen. Er mußte eine große mächtige Gesamtperson sein. Und diese Gesamtperson ist unsere neue Gesellschaft. Die ist euer Gutsherr, die hat euch das Land und die Arbeitsmittel verschafft, denen ihr euren jetzigen Wohlstand verdankt. Aber auch die neue Gesellschaft hat das alles nicht aus sich selbst, hat es nicht nur aus den Köpfen ihrer Führer oder aus den Taschen ihrer Gründer. Die neue Gesellschaft beruht vielmehr auf den Ideen, die ein gemeinsames Produkt aller Kulturvölker sind. Versteht ihr jetzt, meine lieben Freunde, was ich meine? Es wäre unsittlich, wenn wir einem Menschen, woher er auch komme, welchen Stammes oder Glaubens er auch sei, die Teilnahme an unseren Errungenschaften verwehren wollten. Denn wir stehen auf den Schultern anderer Kulturvölker. Schließt einer sich uns an, erkennt er unsere Gesellschaftsordnung an, nimmt er die Pflichten unserer Gemeinschaft auf sich, dann soll er auch alle unsere Rechte voll genießen. Was wir besitzen, verdanken[104] wir den Vorarbeiten anderer. Darum gehört es sich, daß wir unsere Schuld abzahlen. Und dafür gibt es nur einen Weg: die höchste Duldung. Unser Wahlspruch muß jetzt und immer lauten: Mensch, du bist mein Bruder!«

Der alte Rabbi Samuel erhob sich und mit seinen zitternden Händen klatschte er dem Redner Beifall. Die Menge folgte diesem Beispiel; sie jubelten David zu, der die Tribüne verlassen wollte. Aber Mendel schrie mit gewaltiger Stimme:

»Dann werd'n uns die Fremden unser Brot wegessen.«

David kehrte auf den Stufen um, winkte der Menge zu, daß er noch etwas zu sagen habe:

»Nein, Mendel, das ist ein Irrtum! Die später kommen, machen euch nicht ärmer, sondern reicher. Der Reichtum eines Landes sind seine arbeitenden Menschen. Das wißt ihr ja von euch selbst. Je mehr Arbeiter kommen, um so mehr Brot gibt es, wenn die Gesellschaftsordnung so gerecht ist wie die unsrige. Natürlich sollt ihr den später Kommenden nicht eure guten Felder, nicht eure erworbenen Rechte ausliefern. Aber so wie es für Neudorf gut ist, wenn immer mehr Ansiedlungen an seinem Rand entstehen, so ist es auch für die neue Gesellschaft. Jeder muß die Güter schaffen, die er genießen will. Und je mehr Güter geschaffen werden, desto mehr besitzt unsere Gemeinschaft. Die älteren von euch, die die Geschichte von Neudorf tätig miterlebt haben, wissen das aus eigener Erfahrung. Zuerst waren hier einige zwanzig Familien. Ich frage: war es für die schlecht, daß allmählich noch dreißig, noch fünfzig, noch hundert Familien hinzugekommen sind? Ich frage: sind die ersten Ansiedler ärmer oder reicher geworden?«

Stürmisch erscholl die Antwort der Leute, die ihn erst jetzt völlig verstanden:

»Littwak hat recht! Es geht jetzt allen besser. Ja, besser!«

David schloß: »Da habt ihr also die Antwort. Was bisher gegolten hat, gilt noch weiter. Je mehr Menschen kommen, um zu arbeiten, desto besser wird es allen gehen. Darum sollen wir nicht nur aus Nächstenliebe rufen: Mensch, du bist mein Bruder! Wir müssen auch aus Eigennutz sagen: Bruder, du bist willkommen! ... Die älteren von euch wissen, wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen hat, wie öd und wüst. Die ersten Ansiedler haben das beste Land besetzt. Die zweiten haben minderes genommen und es auch gut gemacht. Immer schlechteres Land haben die späteren bekommen und haben es urbar gemacht, steiniger Boden wurde fruchtbar, Sümpfe wurden ausgetrocknet. Denn an den Grenzen einer Niederlassung übt auch schlechter Boden eine Anziehungskraft aus. Und heute ist Neudorf ein Garten, ein weiter, herrlicher Garten, in dem es gut zu leben ist. Aber alle eure Pflanzungen sind nichts wert und sie werden verdorren, wenn bei euch Freisinn, Großmut und Menschenliebe nicht gedeihen. Die sollt ihr hegen und pflegen, die sollen bei euch blühen. Und weil ich das von euch erwarte, darum rufe ich: Hoch! Hoch! und noch einmal hoch Neudorf!«

Jetzt war die Begeisterung da. »Hoch Littwak! Hoch Neudorf!« schrien die Männer und Frauen. Sie hoben den Redner, der sich lachend vergebens dagegen sträubte, auf ihre Schultern und trugen ihn im Kreise herum.

An diesem Tage verlor Dr. Geyer die Stimmen der Wähler von Neudorf.[105]

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 98-106.
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