Sechstes Kapitel

[115] Aus der feierlichen Stimmung, in die sie beim Besuche des Steineckschen Institutes geraten waren, kamen die Fremden auf dem Rückweg in eine ergötztere Laune. Denn als sie an der Badeanstalt vorüberfuhren, machte Reschid Bey den Vorschlag,[115] auszusteigen und ein halbes Stündchen im Kurhausgarten bei der Musik zu verbringen. Sie verließen ihren Motorwagen und betraten die schönen Anlagen, in denen jetzt viele Leute saßen, umherwandelten und den Weisen der Kurkapelle lauschten. Es war die gemischte Menge der Badeorte: Müßiggänger, geputzte Damen. Unter den Palmen saßen sie auf Stühlen aus biegsamem Eisenblech, musterten die Vorübergehenden, klatschten und flirteten, wie man es überall in der Welt sehen kann.

Kingscourt stellte das mit grimmigem Behagen fest:

»Na also, da sind sie endlich, die Jüdinnen mit den Edelsteinen! Mir war schon bange danach. Ich dachte mir, das Ganze ist vielleicht doch eine Fopperei, und wir sind gar nicht im Judenland. Nun seh' ich erst, es ist wahr. Da sind die wandelnden Federhüte, die grellen Seidenkleider, die Juwelenisraelitinnen. Nichts für ungut, Mrs. Gothland. Sie sind ja eine andere Nummer.«

Mrs. Gothland nahm es auch durchaus nicht übel, und Professor Steineck lachte dröhnend.

»Geniert uns gar nicht, Mr. Kingscourt! Solche Bemerkungen konnten uns in früherer Zeit verletzen, aber jetzt nicht mehr. Sie verstehen? Früher hat man die Promenadenjüngelchen, die Protzen und Juwelenhebräerinnen als die Vertreter der Judenschaft angesehen. Jetzt weiß man, daß es auch andere Juden gibt. Jetzt können Sie über dieses Gelichter schimpfen, soviel Sie wollen, edler Fremdling! Wenn es finster wird, schimpfe ich mit.«

Im Kurgarten erregte die lachende kleine Gesellschaft, wie sie durch die Hauptallee schritt, Aufsehen. Den Professor kannten offenbar alle Leute und darum reckten sie sich auch die Hälse aus nach den auffallenden Fremden in seiner Begleitung. Um den neugierigen Blicken zu entkommen, bog Steineck mit den Gefährten in einen Seitenweg ein, doch da gerieten sie erst recht mitten in den Kreis, dem sie hatten entrinnen wollen. Da saßen in einer Rundung von Büschen mehrere Damen und Herren in lebhaftem Geplauder. Einer sprang auf, eilte mit heftigen Bewegungen der Freude auf Friedrich zu und rief ihm laut entgegen:

»Herr Doktor, Herr Doktor! Von wem meinen Sie, daß wir haben gesprochen jetzt die ganze Zeit? Nu? Raten Sie! Von Ihnen! Ich bin so froh!«

Dieser frohe Herr war Schiffmann. Er zog Friedrich in den Kreis, stellte ihn mit sprudelnden Worten vor, schob ihm einen Stuhl zurecht und drückte ihn auf den Sitz nieder. Das alles geschah so verblüffend rasch, daß Friedrich, auch wenn er nicht vor Überraschung widerstandslos gewesen wäre, sich kaum hätte wehren können. Die Überraschung aber war, daß er plötzlich seine Jugendliebe Ernestine Löffler dicht vor sich sah. Sie begrüßte ihn mit Blick und Lächeln noch bevor sie sprach, und er fand keine Worte. Indessen war Schiffmann zu Steineck, den er kannte und den anderen zurückgeeilt. Er nötigte sie auch, näherzutreten, ungefähr wie der Straßenverkäufer vor einem Kleidergeschäft. Der Professor hatte sichtlich keine Lust, der Einladung zu folgen; aber Kingscourt meinte, man könne Friedrich doch nicht allein stecken lassen: mitgefangen, mitgehangen. Schiffmann lachte gefällig über diese zweifelhafte Liebenswürdigkeit. Dann schleppte er Stühle herbei, nannte die Namen der Anwesenden: Herr, Frau und Fräulein Schlesinger,[116] Herr und Frau Dr. Walter, Frau Weinberger, Fräulein Weinberger, die Herren Grün und Blau, Herr Weinberger.

Friedrich sah und hörte dies alles wie durch einen Nebel. Alte Zeiten standen wolkig auf. Er sah sich wieder an jenem Verlobungsabend im Löfflerschen Hause. Da war jene unerträgliche Gesellschaft, der er damals verzweifelnd entfloh. Alle gealtert und doch noch dieselben. Nur die beiden jungen Mädchen bedeuteten eine andere Generation. Diese Zarte, die ihn mit fremden Augen ansah, völlig Ernestinens Ebenbild. Er hörte von dem Gespräch ringsum nur schwaches, verworrenes Geräusch, so sehr war er von den Erinnerungen betäubt. Erst als eine Frage ihn geradezu anfiel, erwachte er.

Herr Grün, der Spaßmacher, hatte ihn angeredet:

»Nun, Herr Doktor Löwenberg, wie gefällt es Ihnen da? Was, Sie finden keine Worte? Vielleicht sind Ihnen zu viel Juden da?«

Man lachte. Friedrich entgegnete langsam:

»Offen gestanden, Sie sind der erste, der mich auf diesen Gedanken bringt.«

»Sehr gut, höhöhö!« wieherte Schiffmann. Die übrigen stimmten in das Gelächter ein. Friedrich bemerkte erst daran, daß man seine Antwort für einen der unartigen Scherze gehalten hatte, die in diesem Kreise üblich waren. Herr Grün, an ärgeres gewöhnt, nahm es nicht übel. Herr Blau, der andere Witzbold, nahm aber grinsend die Verfolgung seines Rivalen auf:

»Grün wär' imstande, sogar hier die Leute zu Antisemiten zu machen.«

»Ihre Späße werden alt, Herr Blau«, mischte sich Dr. Walter ein. »Es gibt ja, Gott sei Dank! keine Antisemiten mehr in der Welt.«

»Wenn ich das sicher wüßt'«, entgegnete Blau, »möcht' ich mich in diesem Geschäft etablieren.«

Kingscourt neigte sich flüsternd ans Ohr des neben ihm sitzenden Steineck:

»Mein lieber Professor, mir scheint, Sie dürften diesen Herrschaften nichts von Ihrer Negeridee erzählen. Man würde Sie schön auslachen!«

»Beweist nichts gegen meine Idee«, erwiderte Steineck ebenso; »diese Gesellschaft hat auch anfangs den jüdischen Volksgedanken ausgelacht. Das sind die letzten, denen man etwas Großes erzählen darf.«

Aber Friedrich griff die frühere Bemerkung auf.

»Ist es richtig«, fragte er, »daß der Judenhaß abgenommen hat?«

»Wie heißt: abgenommen?« rief Herr Schlesinger. »Sagen Sie: verschwunden.«

»Darüber«, sagte Blau keck, »wird Ihnen niemand bessere Auskunft geben wie Herr Doktor Veiglstock. Der hat sich benommen wie ein Kapitän. Er hat das Schiff zuletzt verlassen.«

Der Advokat ärgerte sich:

»Sie, Herr Blau, ich werd' Sie bei den Ohren nehmen und Ihnen einsagen, wie ich heiße. Walter heiße ich ein- für allemal. Merken Sie sich das! Obwohl ich mich des ehrlichen Namens meines Vaters nie geschämt habe, das weiß jeder. Früher mußte man den Vorurteilen Konzessionen machen, wenn man nicht geschunden werden wollte.«

»Und das ist jetzt nicht mehr nötig?« forschte Friedrich.[117]

»Nein. Übrigens ist das ausnahmsweise wahr, was Herr Blau in seiner pseudowitzigen Weise angibt. Ich bin erst vor kurzem hierher übersiedelt. Man kann aber daraus nur ersehen, daß ich nicht der Not gehorchte, sondern dem eigenen Triebe.«

»Ende Jud, alles Jud!« meckerte der angenehme Herr Grün. Herr Blau jedoch traute dem Landfrieden nicht mehr und machte daher nur eine ganz leise Bemerkung, die der Advokat nicht hören konnte, über den eingetretenen Mangel an Klienten.

Dr. Walter warf sich nun in die Brust und begann zu erzählen, welche Wirkungen die Auswanderung so vieler Juden in Europa gezeitigt habe. Für ihn, Dr. Walter, sei es ja von allem Anfang an festgestanden, daß die zionistische Bewegung sowohl für die Abziehenden wie für die Zurückbleibenden die heilsamsten Folgen hervorrufen müssen. Er sei einer der allerersten gewesen, welche die Nützlichkeit dieser Bewegung einsahen, und wenn ihm auch seine damalige Lebensstellung nicht gestattete, seinen Empfindungen und Überzeugungen ganz freien Lauf zu lassen, so habe er doch in einer bescheidenen, unauffälligen Weise für den Nationalgedanken gewirkt. Als Beweis führte er hierfür an, daß er damals in seiner Kanzlei einen armen Studenten als Schreiber beschäftigt hatte, und daß er diesem nicht das Brot entzogen, ihn nicht weggejagt, obwohl der junge Mann zionistische Versammlungen besucht hatte. Auch zum Nationalfonds habe er, Dr. Walter, sein Scherflein beigetragen, als dieser Volksschatz bereits mehrere Millionen Pfund Sterling enthielt, also die Bürgschaften der Sicherheit in der eigenen Größe hatte.

Herr Blau, der Scherzhafte, suchte eine kleine Revanche für die vorhin erlittene Demütigung:

»Ein Scherflein? Entschuldigen, Herr Doktor, wenn ich frage. Ist das eine neue Münze? Scherflein, Scherflein?«

Herr Dr. Walter ließ sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er zuckte nur die Achseln, sah über den Frager geringschätzig hinweg und erzählte weiter. Daß die nach Palästina Gezogenen hier eine glückliche große Heimat gefunden hätten, sehe und wisse heute schon jeder. Doch auch den Juden, die an ihren Wohnorten verblieben waren, ging es endlich gut. Sie waren von Angriffen verschont, seit die jüdische Konkurrenz schwächer geworden oder ganz verschwunden war. In den mit Juden überfüllten, oder wie man damals zu sagen pflegte, verjudeten Ländern war eine bemerkenswerte soziale Erleichterung eingetreten. Der Abfluß hatte zwar zunächst nur aus den unteren Schichten der Armen und Proletarier sich ergeben, aber dennoch wurde die Wirkung auch bald in den mittleren und höheren Schichten fühlbar. Diejenigen, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten, zogen zuerst nach dem altneuen Lande. Es ging, da die Wanderung eine ganz freiwillige war, nur wer die Sicherheit hatte, sich durch die Übersiedlung sein Los zu verbessern. Die Arbeitslosen, die Verzweifelnden strömten dahin ab, wo ein breites Feld von Arbeit und Hoffnung sich eröffnete. Diese Erscheinung war doch selbstverständlich. In Palästina gab es die weltbekannte Gelegenheit, in den massenhaft aufsprießenden Unternehmungen sogleich Brot und binnen kurzem sogar einen gewissen Wohlstand zu erwerben. Dazu die lockende Freiheit. Keine Zurücksetzung[118] wegen der Konfession und Nationalität. Schon das war Anziehung genug. Aber es fand auch eine vernünftige Vereinigung aller längstbestehenden jüdischen Wohltätigkeitsgesellschaften statt. Die hatten früher ihre liebe Not gehabt mit den Glaubensgenossen, die durch Verfolgungen und materielles Elend von Land zu Land gehetzt wurden. Ehemals war jeder örtliche Notstand eine allgemeine Plage der Judenheit geworden. Wenn die Ärmsten es in einem der osteuropäischen Länder nicht aushalten konnten und sich auf die jammervolle Reise begaben, so wurden nach und nach auch die entlegeneren Gemeinden in Mitleidenschaft gezogen. Man gab und gab den Wanderbettlern und konnte doch nie ausreichend geben. Unsummen wurden aufgewendet, ohne die Möglichkeit einer Prüfung im einzelnen Falle, folglich auch ohne Gewähr, daß nur die Würdigen bedacht wurden. Und das Ergebnis war keineswegs eine auch nur vorübergehende Linderung der Misere, sondern im Gegenteil die Züchtung von Professionsbettlern, die Unterstützung einer schmählichen Elendindustrie. Durch den zionistischen Gedanken war das Feld gegeben, auf dem sich alle humanitären jüdischen Bestrebungen vereinigen konnten. Die Gemeinden der ganzen Welt unterstützten die Ansiedlung ihrer eigenen Armen in Palästina. Dadurch wurden sie diese hilflosen Kostgänger los, es war billiger als die frühere, unüberlegte Methode des Verschickens in irgendeine Fremde und es lag darin zugleich die Bürgschaft, daß nur Arbeitswilligen, Würdigen unter die Arme gegriffen wurde. Wer etwas Redliches schaffen wollte, der fand in Palästina jede Möglichkeit, sich zu betätigen. Wer behauptete, auch in Palästina kein Fortkommen finden zu können, der gab sich schon dadurch als Lump und Faulenzer zu erkennen; er verdiente keine weitere Teilnahme. Es gab in der ersten Zeit Unverständige, die meinten, eine solche Proletarieransiedlung könne nicht gedeihen. Wie dumm und ungebildet diese Auffassung war, das erkannte der Sprecher, Dr. Walter, und alle Leute, die gleich ihm einen weiteren Horizont hatten, von vornherein. Waren denn nicht im ganzen Laufe der Weltgeschichte die neuen Ansiedlungen von Hungerleidern gemacht worden? Die Satten haben keinen Grund, die Grenzen der Kultur hinauszurücken. Die Satten bleiben zu Hause. Aber den Hungrigen gehört die Welt. Die im Glauben beunruhigten Puritaner besiedeln Nordamerika. Die Glücksucher lassen sich in Indien oder Südafrika nieder. Und wo gab es eine Kolonie, die von schlechteren Elementen geschaffen wurde, als Australien, das große, blühende, stolze, reiche Australien. Das war zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine verachtete Sträflingskolonie und wuchs in wenigen Jahrzehnten zu einem mächtigen, gesunden Staatswesen heran. Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es ein Kronjuwel des britischen Weltreiches.

Wie gesagt, Dr. Walter und seinesgleichen, die gebildet genug waren, lachten über den Einwand, daß Proletarier keine Ansiedlung sollten gründen können. Wenn arme Sträflinge das in Australien vermochten, um wieviel eher waren es die Pioniere des jüdischen Volkes imstande, da sie in ihrer glückverheißenden Arbeit für die Freiheit und Ehre der Nation vom ganzen Hause Israef unterstützt wurden. Die Ereignisse bestätigten auch die Voraussicht Dr. Walters, das wollte er in aller Bescheidenheit betonen. Denn die gewaltigen Besiedlungsarbeiten erforderten[119] auch ein zahlreiches modern vorgebildetes Personal von Ingenieuren, juristischen und kommerziellen Beamten. Plötzlich war damit eine Verwendung für die Massen studierter junger Leute geboten, die früher, in den antisemitischen Zeiten nirgends hatten ankommen können. Während die gebildeten Juden vormals bei ihrem Abgange von den Universitäten, technischen Hochschulen und Handelsakademien ratlos und hoffnungslos dastanden, bekamen sie in Palästina nun Anstellungen bei den öffentlichen und privaten Unternehmungen. Die Folge war, daß sie ihre christlichen Kollegen nicht mehr genierten. Der Jude hörte auf, ein lästig empfundener Mitbewerber zu sei, und damit schwand natürlich allmählich der wirtschaftliche Haß und Neid. Mehr noch: die nützlichen Eigenschaften der Juden fingen an, erkannt zu werden, als das Angebot auf dem Markte schwächer wurde. Der Wert der Dienste wächst, je weniger man sie anbietet. Jeder weiß das. Warum hätte das nicht auch von den Diensten der Juden im wirtschaftlichen Verkehr gelten sollen? Und so machte sich die Besserung der Zustände von allen Seiten geltend. In Ländern, wo man nicht mehr Juden auswandern lassen wollte, trat ein freundlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung ein. Man gab den Juden die volle Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier der Gesetze, sondern in lebendiger Übung, im täglichen Umgang, in den Sitten und Gebräuchen. Zwangsmaßregeln hätten nicht vermocht, die Juden zur freudigen Mitarbeit in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Verkehr und auf allen übrigen Gebieten der bürgerlichen Betätigung zu bewegen. Die Güte aber brachte das zuwege. Erst als die umhergehetzten Juden in ihrem eigenen Lande zur Ruhe kamen, trat die großgemeinte Emanzipation in jedem Staate in Kraft. Die sich einem anderen Volkskörper assimilieren konnten und wollten, durften es nun in einer offenen, weder feigen noch verlogenen Weise tun. Es gab manche, die den Glauben der sie umgebenden Volksmehrheit annehmen wollten; sie konnten es jetzt, ohne den Verdacht der Stellenjägerei oder Streberei auf sich zu laden. Denn es war nicht mehr nützlich, vom Judentum abzufallen. Die Juden, die sich in allem, nur nicht im religiösen Bekenntnis eins fühlten mit ihren Mitbürgern, erfreuten sich der ungeschmälerten Wertschätzung auch als Angehörige einer Minoritätskonfession. Denn Duldung kann und wird immer nur auf Gegenseitigkeit beruhen, und erst als auch die Juden hier, wo sie die Mehrheit bilden, sich tolerant erwiesen, wurde ihnen aus sittlicher Reziprozität überall dasselbe zuteil.

»Darum«, schloß Dr. Walter seinen kleinen Vortrag mit einem gefälligen Seitenblick auf Professor Steineck; »darum bin ich ein Anhänger und Verfechter der Ideen, die von der Littwak-Steineckschen Partei vertreten werden. Ich werde unentwegt, bis zu meinem letzten Blutstropfen für diese Idee eintreten.«

Herr Blau fügte schneidend hinzu:

»Bitte, vergessen Sie nicht, das Ihrem Herrn Bruder auszurichten, Herr Professor. Wenn Sie Herrn Dr. Walter auf Ihrer Seite haben, dann haben Sie die Majorität.«

Der Advokat wurde dunkelrot im Gesicht:

»Was wollen Sie damit sagen, Sie – Sie?«

»Bitte, gar nichts«, sagte der Witzbold mit gespielter Harmlosigkeit. »Ich habe[120] Sie noch nie anderswo als bei der Majorität gesehen. Darum ist den Leuten, denen Sie sich anschließen, immer zu gratulieren.«

»Wenn Sie mit Ihren faulen Witzen sagen wollen, daß ich meine Ansichten zu ändern pflege, so kann ich darüber nur lachen. Jeder vernünftige Mensch wird mit der Zeit klüger. Die Hauptsache ist: wenn ich einmal von etwas überzeugt bin, so halte ich daran unentwegt fest.«

»Nu ja«, sagte Herr Grün, indem er sich sein »uneingesäumtes« Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger rieb; »das versteh' ich. Wenn Dr. Walter eine Überzeugung hat, so haltet er an ihr fest, unentwegt. Wenn er aber die Überzeugung nicht mehr hat oder eine andere vorzieht, so wär' es doch nicht charaktervoll, wenn er die frühere Überzeugung, die er nicht mehr hat, noch mit Gewalt festhalten wollte.«

Herr Schlesinger, der in diesem Kreise als geschäftlicher Vertreter des Baron Goldstein noch immer ein gewisses Ansehen genoß, warf sich mit Autorität zwischen die Streitenden:

»Was ist das, meine Herren? Sind wir hier in einer Volksversammlung? Was gehen uns die Überzeugungen an? Ich kenn' nur zweierlei: Geschäft und Vergnügen.«

»Bravo!« rief Kingscourt. »Und zuerst det Jeschäft.«

»Sie sehen, der Herr denkt auch so«, schloß Schlesinger. »Is jetzt Geschäftsstunde? Nein. Also lassen wir uns in Ruh'!«

»Sie treffen doch immer den Nagel auf den Kopf, Herr Schlesinger!« schmeichelte Schiffmann und wandte sich dann zu Kingscourt und Friedrich mit einer halblauten Erklärung, die jeder hören konnte:»Nicht umsonst genießt er das Vertrauen der Barone von Goldstein. Er ist der Vertreter in Jaffa von diesem großen Haus.«

»Was Sie nicht sagen!« entgegnete Kingscourt und machte eine bewundernde Miene.

Herr Schlesinger starrte bescheiden vor sich hin, wie ein berühmter Mann, der den Leuten gezeigt wird.

Indessen waren die Damen wieder zu ihren früheren Gesprächen über die neuen Pariser Hüte zurückgekehrt. Frau Laschner führte das große Wort. Sie bezog ihre Putzgegenstände geradeswegs aus der Rue de la Paix.

Frau Ernestine Weinberger aber hatte Friedrich bedeutet, er möge seinen Sessel näher heranrücken, und sie plauderte leise.

»Ja, und das ist meine Tochter. Was die Zeit vergeht? Wie finden Sie sie? Hübsch, häßlich?«

»Ganz die Mutter!« sagte er mechanisch.

»Also häßlich? Sie Schlimmer!« und dazu ein koketter Augenaufschlag.

Ihm war ganz traurig zumute, als er dieses gefallsüchtige, verblühte Frauenzimmer betrachtete. So sehen die Gründe unserer großen Schmerzen nach zwanzig Jahren aus. Man versteht nicht mehr, wie man sich um solches grämen konnte. Ach, die verlorene Zeit!

Sie, die keine Ahnung hatte, was in ihm vorging, schäkerte weiter. Was er denn[121] jetzt vorhabe? Ob er hierbleiben oder nach Europa gehen wolle? Wenn er im Lande bliebe, würde er nun wohl auch daran denken, einen Hausstand zu gründen, ein Weib zu freien.

»Ich?« sagte er verwundert. »Ich, in meinen Jahren? Das habe ich versäumt, wie manches andere, wichtigere.«

»Jetzt sind Sie nicht ehrlich«, meinte Frau Ernestine Weinberger. »Sie befinden sich noch in den Jahren. Sie sehen viel jünger aus als Sie sind. Auf Ihrer einsamen Insel haben Sie sich gut konserviert ... Warten Sie, ich will ein unbefangenes Kind raten lassen, wie alt Sie sind ... Fifi, rat' einmal, wie alt Herr Dr. Löwenberg ist.«

Fräulein Fifi Weinberger, das unbefangene Kind, blickte ihn ein bißchen an, senkte dann die Augen und lispelte:

»Anfang der Dreißig, Mama!«

»Ach nein, liebes Fräulein! Da haben Sie mich nicht genau angesehen.«

»Oh doch!« lispelte sie wieder. »Ich sah Sie ja neulich in der Oper, als Sie mit Mirjam Littwak waren.«

»A propos«, sagte Ernestine, »wie gefällt Ihnen Mirjam Littwak? Ich meine nicht: äußerlich. Sie ist ja ganz hübsch. Aber ihre Art, ihre Pose. Sie tut ein bißchen groß mit Pflichterfüllung und solchen Scherzen. Sie spielt Lehrerin. Das ist jetzt hier das Neueste.«

Friedrich war empört:

»Meine Gnädige, so viel ich weiß, spielt Fräulein Littwak nicht die Lehrerin, sondern sie ist es wirklich. Sie nimmt ihre Aufgabe so ernst, wie es sich gebührt.«

»Schau, schau, wie Sie Fräulein Littwak verteidigen!« spöttelte Ernestine.

»Mein Freund gibt mir ein Zeichen«, sprach Friedrich, indem er sich erhob. »Wir müssen uns verabschieden.«

Er empfahl sich und ging mit seinen Freunden weg. Kingscourt faßte ihn unter den Arm und sagte:

»Fritz, raten Sie mal, was ich mir die ganze Zeit in der furchtbar netten Gesellschaft jedacht habe!«

»Keine Ahnung!«

»Daß es für uns Zeit wird, abzureisen. Darum waren wir doch nicht Räuber und Mörder, um beim Vertreter der Barone von Goldstein zu enden. Oder wollen Sie vielleicht hier vor Anker jehen?«

»Sie fragen, Kingscourt? Sie wissen sehr gut, daß ich Ihnen gehöre und mit Ihnen gehe, wann Sie wollen, wohin Sie wollen.«

Da blieb der Alte stehen und drückte ihm die Hand.[122]

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 115-123.
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