Ein Schatten

[250] Die letzten sind gegangen, das Geschwirr

Der Stimmen drauß' im Vorplatz ist verhallt,

Die Haustür fiel ins Schloß, und Wagenrollen

Tönt von der Gass' herauf.

Die Hausfrau geht

Umher und öffnet alle Fenster weit

Der balsamreichen Nachtluft. Dann zum Gatten,

Der stumm im Sessel ruht, zurückgekehrt,

Streicht sie ihm leise mit der weichen Hand

Die Stirne: Dir ist heiß. Es war ein wenig

Zu viel des Zigarettendampfs. Doch sonst

War's, wie mir scheint, recht hübsch. Sie waren alle

Sehr munter und gesprächig, unsre kleine

Hausnachtigall besonders gut bei Stimme,

Das Essen gut, und meine Bowle –

Hm!

Die schien mir nur zu süß.

Meinst du? Ei nun,

Doch fand sie Beifall und ward ausgetrunken

Bis auf den kleinen Rest. Dir aber, Liebster,

Hab ich's wohl angesehn, daß etwas Bittres

Dir auf der Zunge lag, und grade bei

Dem Lied des Orpheus, das du sonst so liebst,

Fiel dir ein düstrer Schatten auf die Stirn.

Wie wandelte so plötzlich diese Schwermut

Dich an?

Er blickt versonnen vor sich hin,

Nur drei Sekunden. Dann erhebt er sich,

Und seinen Arm um ihren Nacken legend,

Komm! sagt er. Laß uns auf und nieder gehn.

Jawohl, es war recht hübsch, und eben darum –

Du hast ganz recht gesehn: mich überfiel's

Unheimlich, just da Orpheus Furien

Beschwor und Larven, in die Unterwelt[250]

Ihn einzulassen. Da zufällig blieb

Mein Blick am Bilde meines Vaters hängen,

Das von der Wand mich ansah. Und da war's

Verwundersam: ich glaubt' ihn selbst zu sehn,

Die sinnend edlen Augen fest auf mich

Gerichtet – oh! du hast ihn nicht gekannt!

Er war der Liebenswerteste der Menschen,

Von jugendlicher Zartheit des Gefühls

Und hohem Freiheitssinn, ein ganzer Mann,

Ein tapfrer Dulder, seiner Pflichten Joch

Klaglos durchs Leben schleppend. Und zu allem

Das frühe Kranken, das ihn uns entriß,

Eh' er sich ausgelebt, da er so viel

Des Freudigsten noch zu erleben hatte.

Wie oft, wenn mir ein Glück beschieden ward,

Ein fröhlicher Erfolg – den er mir immer

Geweissagt – trübte mir's die frische Freude,

Daß ich mit ihm sie nicht mehr teilen sollte!

Und Reue fühlt' ich, wie so oft, auch heut,

Daß ich ihm alle Lieb' und allen Dank

Nicht wärmer noch und inniger ausgesprochen,

Ihm nicht gesagt, wie alles Beste, was

Ich in mir trug, nur sein Vermächtnis sei,

Aus seinem Blut entsproßt – und da begann

Des Orpheus Lied, das den geliebten Schatten

Heraufbeschwört, und in mir sprach's: So wird

Kein Zaubersang, mein Vater, von den Schatten

Dich auferwecken, daß du deines Sohns

Gesegnet Leben teilst, von allen Seinen

Geliebt, geehrt, daß du das Beste, was

Ihm sein Geschick gegönnt hat, diese Frau

Mit Augen sähest, die, wie ich dich kannte,

Auch dir das ganze Herz gewonnen hätte.

Denn dich unwiederbringlich hält die Nacht

Der Unterwelt und keines Eros Gunst

Kann dich zurück uns bringen.

Findest du's

Noch wundersam, Geliebte, daß ein Schatten

Auf meine Stirne fiel und daß der Trank,

Den du uns botest, mir zu süß erschien?

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 250-251.
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