Neuer Wein

[286] O Rebenhügel dicht gereiht

Voll lachenden Sonnenscheines!

Das ist die Zeit der Trunkenheit,

Die Zeit des neuen Weines.


Ein Mosthauch durch die Lüfte zieht

Aus Kellern und Spelunken;

Von jeder Kelter schallt ein Lied,

Ein jedes Aug' sprüht Funken.


Die Wagen schwanken hoch daher

Mit vollen Traubenkufen;

Das Ochsenpaar ist auch nicht mehr

Ganz sicher auf den Hufen.


Hast du den langen Storch gesehn?

Er naschte vom jungen Weine.

Nun kann er nicht mehr grade stehn

Wie sonst auf einem Beine.
[286]

Sogar das mürrische Borstentier

Grunzt fröhlich in seiner Klause;

Es dünkt sich wie ein König schier

Beim üppigen Trebernschmause.


Am tollsten lärmt das Spatzengeschlecht,

Die Jungen wie die Ältern.

Sie haben sich alle stark bezecht

Und taumeln um die Keltern.


Weg, altes Herz, mit Sorg' und Harm!

Gib acht, nur über ein kleines

Mitjauchzest du im trunknen Schwarm

Das Lob des neuen Weines!


(Am Rhein)


Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 286-287.
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