Tiefer Brunnen

[165] Verschließ dich nur, du schöner Mund,

Verbirg dich, tiefes Herz, mit Fleiß:

Der Rechte kommt zur rechten Stund',

Der Mund und Herz zu lösen weiß.


Gedenk' ich dein, kommt mir zu Sinn

Die Sage von der alten Stadt.

Ein tiefer Brunnen lag darin,

Drauß keiner noch getrunken hatt'.


Er war so tief, so wundertief,

Ließ man ein Becherlein hinab,

Der Faden viele Stunden lief

Und reichte doch den Grund nicht ab.


Da kam des Wegs ein Musikant,

Der sah den Brunn und trat herzu

Und nahm sein Geigenspiel zur Hand

Und spielt' ein Stück und sang dazu.


Und horch, da rauscht' es tief und voll

Und wogt' herauf und sprudelt' klar,

Und lieblich kühl Gewässer schwoll

Empor zum Rande wunderbar.


Der Spielmann trank nach Herzgelüst,

Da war gelöst der dunkle Bann.

Wer dich so zu ersingen wüßt',

Ach, wäre wohl ein sel'ger Mann!

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 165.
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